Original

9. Dezember 1924

Der Park ist tot. Er hatte diesmal einen sanften Tod und ich freue mich darüber, wie man sich darüber freut, wenn jemand, den man lieb hatte, keines schweren Todes zu sterben brauchte.

Wir sind gute alte Freunde. Das heißt, von ihm weiß ich es nicht. Es sind so viele, die ihn ihren Freund nennen, und er stößt ja auch niemand zurück. Da bildet man sich halt ein, die Freundschaft sei gegenseitig.

Denken Sie sich das Verhältnis etwa so: Sie treffen jeden Tag, wenn Sie zur Stadt gehen oder aus der Stadt zurückkommen, einen Nachbar, der denselben Weg hat. Was ist natürlicher, als daß Sie sich mit ihm anbiedern und sich für sein Wohl und Wehe interessieren? Er braucht Ihnen mit keinem Wort gesagt zu haben, daß er Ihr Freund ist, aber wenn das Verhältnis jahrelang ungetrübt gedauert hat, gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß Sie mit ihm in Freundschaft verbunden sind.

In solchem Verhältnis stehen der Park und ich zueinander.

Ich kenne ihn seit Jahrzehnten. Ich weiß, daß die Hartriegelstaude, die an meinem Weg steht, schon jetzt ihre Knospen für nächstes Frühjahr in Bereitschaft hat, also daß sie mit jedem Tag um ein Winziges ausschwellen, den kommenden Frösten zum Trotz. Denn sie wollen, wenn’s gilt, die ersten sein, sie wollen das Rennen machen. Ich kenne die lange Lärche, die ihrem Nachbar in den Armen liegt und zu nachtschlafener Zeit verliebte Töne macht, ich kenne die alte Esche, die sich noch zu erinnern weiß, wie damals der große Ampoleong in Luxemburg so feierlich empfangen wurde, wie kürzlich sein Landsmann Herriot, ich kenne die Silberpappel, die zur Blütezeit ihre Lämmerschwänzchen über den Weg streut, und die kahl- stämmigen schlanken Fichten, durch die die Abendsonne so schön scheint, als hätte Walter Leistikow sie gemalt.

Darum freue ich mich im Frühjahr, wenn die wärmere Sonne den Saft wieder herauflockt bis in alle Zweigspitzen, ich freue mich den Sommer über, wenn der Park mit seinen Milliarden grüner Blätterlungen atmet, und ich freue mich der herbstlichen Pracht, in der er im Abstieg des Jahres zur Ruhe geht.

Sie denken wohl, das vollzieht sich nach der unwandelbaren Regel, die einmal ein geistreicher Feuilietonist in einem hiesigen Blatt aufstellte: Im Herbst werden die Blätter welk und fallen von den Bäumen.

Nein, so simplistisch stirbt mein Freund der Park nicht. Es gibt Jahre, wo er eines natürlichen, und Jahre, wo er eines gewaltsamen Todes stirbt.

Dieses Jahr ist er programmäßig eines herrlichen Naturtodes gestorben. Die Laubmassen verfärbten sich langsam, und als sie rot und braun und gelb waren, hingen die Wipfel noch voll Blätter. Sie erinnerten an den weißen Ibsenkopf, auf dem die Haare noch dicht und lebenstrotzig standen, als der Herbst sie schon lange entfärbt hatte. Wochenlang brannte so der Park in üppigster Farbengala, als wartete er auf immer mehr Freunde, die zu ihm kämen, sich an seiner Pracht zu freuen, als müßte er Herrn Batty Fischer Modell stehen zu einem ganzen Album farbiger Photographien.

Dann ging er langsam zur Ruhe, legte einen Schmuck nach dem andern ab, wie eine schöne Frau nach dem Ball sich träumerisch langsam entkleidet und vor dem Spiegel sich lächelnd erinnert, wie sie den Tänzern gefallen hat.

Nicht immer stirbt der Park so in ruhiger Schönheit. Manchmal reißt ihm der Sturm sein farbiges Gewand in Fetzen vom Leib. Das ist gewalttätig, aber es hat seine Schönheit, wie alles jauchzend Gewalttätige.

Das Unheimliche ist, wenn der Park über Nacht meuchlings ermordet wird. Wenn ein Frost von Nordost her über die Dächer schleicht, über den Park herfällt und ihn erdrosselt.

Morgens ist in allen Blättern der letzte Saft erstarrt, sie sind verdorrt und verkrumpelt, als wären sie von Papier, und fallen tot von den Zweigen.

Ich freue mich, daß mein Freund dies Jahr nicht solchen gewaltsamen Todes zu sterben brauchte.

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KatalognummerBW-AK-012-2788