Original

29. April 1922

Lesen Sie das neueste Heft der Revue BelgiqueLuxembourg. Lassen Sie sich nicht dadurch abschrecken, daß auf dem Titelblatt ein Bild der abgedankten Großherzogin Marie-Adelheid als das der Großherzogin Charlotte dargeboten wird. Die Gesichter und die Schicksale der Töchter des letzten Nassauers werden in der Geschichte noch lange mit einander verwechselt werden, wie sie es seit Jahren in der ausländischen Presse so häufig wurden.

Lesen Sie in diesem Heft den Artikel von Henriquet über die Konferenz von Genua und das russische Problem. Es ist kaum möglich, dies kürzer und klarer in Worte zu fassen. Die europäische Wirtschaft krankt an der Ausschaltung Rußlands. Also schalte man es wieder ein. Rußland kam als Abnehmer und als Lieferant in Betracht. Heute kann es uns keine Maschinen mehr abnehmen, weil die russische Industrie von unsähigen und uninteressierten Arbeiterräten auf den Grund gewirtschaftet ist. Und es kann uns kein Getreide mehr liefern, weil die Bauern das, was sie über den eigenen Bedarf hinaus erzeugen; nicht nach Gutdünken und zum Tagesweltpreis verkaufen dürfen. Das ist das Fazit des weltbeglückenden Bolschewismus.

Lesen Sie auch die kurzen politischen Betrachtungen über die Ereignisse der letzten Wochen. Sie finden darin zum Beispiel einen interessanten Vergleich zwischen der Behandlung, die von seiten der Entente die Exkaiser aus den Häufern Hohenzollern und Habsburg erfahren haben. Der eine stirbt in und an der Verbannung nach Funchal, der andere verlebt seine Tage friedlich im Schatten einer holländischen Windmühle. Wieso war der eine der Entente gefährlicher, als der andere?

Das Beispiel steht nicht allein da.

Am interessantesten ist für uns jedenfalls ein kurzer Aufsatz über die Luxemburger im Kongo. Ich zitiere daraus folgenden Satz:

„Nous n’étonnerons personne en signalant que les études primaires et secondaires dans le GrandDuché sont beaucoup plus avancées que chez nous et que le caractère y est en général formé de façon plus sérieuse.“

Diese Feststellung in einer Zeitschrift, die von Belgiern gegründet wurde und von Belgiern geleitet wird, ist für uns zum mindesten schmeichelhaft. Es schadet nichts, wenn einmal von außen unser Selbstvertrauen ein wenig gestärkt wird. Trifft es wirklich zu, daß die Charakterbildung bei uns in so ernster Weise vor sich geht, so müssen unsere Unabhängigkeit mit 67 Prozent belastet werden. Das Kapital in der Industrie, das schon gefährdet genug ist, wird schließlich nicht mehr rentieren, das inländische Kapital sucht im Ausland unterzukommen. Die Industrieanlagen in unserm Land können vom inländischen Kapital nicht leben, die Steuerpläne der Regierung schrecken das fremde Kapital ab, wenn so die inländische Industrie den Krebsgang gehen muß, fällt die reichste Steuerquelle fort und die Landwirtschaft wird alle Steuern leisten müssen und auch daran zugrunde gehen. Die Regierung bringt unsere Industrie der belgischen gegenüber in eine Lage, in der sie nicht mehr konkurrieren kann. Redner bringt mit den HH. Boever, Clemang, Diderich und Welter den Antrag ein, daß keine Exporttaxe erhoben werden soll. - Hr. Clemang bekämpft ebenfalls an der Hand eines genauen Ziffernmaterials die Exporttaxe und warnt davor, daß der Staat unsere Großindustrie durch eine falsche Steuerpolitik ruiniert. Man sollte und hätte sollen die wirklichen Gewinne besteuern, aber nicht so blindlings dreinschlagen. - Hr. Gen.-Dir. Neyens redet längere Zeit für die Exporttaxe und überläßt der Kammer die Entscheidung. - Das Votum darüber wird auf Dienstag morgen verschoben.

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KatalognummerBW-AK-010-2139