Original

29. Juli 1922

Also der Primaner!

Er beherrscht jetzt den Tag - und die Nacht. Ziemlich hörbar. Er ist eine Erscheinung der Jahreszeit, wie das Glühwürmchen um Johanni und die Verwurelten Gedanken an Fastnacht. Er ist etwas Frischgebackenes. Er ist der Pfeil auf dem Bogen des Lebens, im Augenblick, wo ihn das Geschick abschnellt ins Ungewisse. Er tritt mit Radau über die erste große Schwelle zwischen dem Scherz der Jugend und dem Ernst des Lebens. Manchmal stolpert er auch.

„Was hat so’n Primaner für ein Gehalt?“ fragt in der alten Operette „Kyritz-Pyritz“ eine Bäurin, deren Tochter mit einem Primaner techtelmechtelt, den Herrn Direktor. Es gibt also noch Leute, die nicht wissen, was ein Primaner ist. Leute, in deren Kreis jedes Lebewesen gleich fertig an seine Stelle zu treten hat. Aber der Primaner ist Halbfabrikat. Unser alter Professor Neumann sagte immer: „Ihr meint groß, was Ihr jetzt wißt! Ihr wißt noch gar nichts, Ihr seid aufgeackerter Boden, in den jetzt erst etwas hineingesät werden soll!“

Mein Freund Grimberger würde den Primanern etwa folgende Rede halten:

„Ihr Grünschnäbel und Brauseköpfe, Ihr denkt, jetzt kommt ein Aufstieg. Im Gegenteil, für Euch beginnt jetzt der Abstieg. Freiheit? O Ihr Phantasten, die gibt es nicht. Ihr werdet die Gefangenen des Lebens, der Ziele, Verantwortungen, Pflichten - Eure eigenen Sklaven, wenn nicht die der andern. Die Wirklichkeit nimmt Euch zwischen Ihre Knochenfinger, jede Illusion müßt Ihr aus der eigenen Tasche mit Enttäuschung, jeden Rausch mit Katzenjammer bezahlen. jetzt steht ihr am höchsten, jetzt mit Euern achtzehn, zwanzig Jahren, dem Triumph des Abiturs, über das Ihr Euch freut, wie über ein eingetretenes Tor nach einem Sonnenland. Meinetwegen, aber ich weiß es besser. Jetzt steht Ihr am höchsten, von morgen an geht es bergab. Die Freiheit ist ein Bluff. Wer sie genießt, mißbraucht sie, wer sie sich versagt, verknöchert!“

Glaubt ihm nicht, dem alten Nörgler. Euer nächster Schritt ins Leben bedeutet so wenig einen Abstieg, wie Gärung eine Verschlechterung des Weines bedeutet. Auf Gärung folgt Klärung. Das ist es: Klärung! Ihr gärt und schäumt im Faß - trüb und süß und prickelnd -, wenn Ihr aber zum klaren Stillwein geworden seid, dann ruht Ihr in der Flasche des Berufs, stark, edel, gesund.

Drei, vier, fünf, sechs Jahre der Gärung in Freiheit liegen vor Euch. Mancher hat es nie zur Klarheit gebracht, ist verdorben am Alkohol und an den Weibern. Diese Jahre sind das Sieb, das die Tauglichen von den Untauglichen scheidet. Seid keine Mucker und Philister, aber schlagt auch nicht um Euch, wie Hampelmänner, bleibt immer Herren Eurer selbst. Erschöpft Euch nicht im Sammeln formaler Wissensschätze, tut Euch auch im Kulturleben der großen Brennpunkte um, in die Euch, vielleicht nur dies eine Mal, Eure Studienzeit führt. Geht in die Berge, segelt, rudert, spielt Tennis und Fußball, aber geht auch in die Kollegien - ochst und schuftet mit den Daumen in den Ohren, aber geht auch in die Theater und Museen und unter die Leute. Das sind die Jahre, wo ihr einsammelt fürs Leben.

Und bedenket, Ihr sollt die sogenannten Besten des Volkes werden, das Salz der Erde.

Also trachtet, daß Ihr nicht schal werdet!

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