Original

21. November 1922

Herr John B. Merckels aus Chicago hat im vergangenen Sommer eine Valutareise nach seiner alten Heimat Luxemburg gemacht und berichtet darüber in der „Luxemburger Zeitung“, die in Chicago erscheint. Ich kann nicht umhin, meinen geneigten Leserinnen zu unterbreiten, was er über sie schreibt:

„Wer Luxemburg Stadt und Land in zehn Jahren nicht mehr gesehen hat, ist höchst erstannt über den Fortschritt in allen Richtungen, den die Frauenwelt zu verzeichnen hat. Es scheint, daß hier der Krieg nicht zum Nachteil, sondern zum großen Vorteil gewirkt hat. Man glaubt sich kaum über See versetzt, wenn man die weiblichen Trachten sieht. Das kurze Knieröckchen, unter dem stramme Waden paradieren, Lackstiefel mit French Heeks, Shirt Waists nach dem neuesten Muster, die gar weit ausgeschnitten sind, und «bobbed» Haarlocken verleihen dem Dämchen einen koketten Anstrich. Das Rauchen von Zigaretten, sogar in öffentlichen Lokalen, hat sehr um sich gegriffen. Die Nonchalance, mit welcher sich die holde Weiblichkeit, sogar in den Dörfern, bewegt, ist frappant und bewunderungswert. Die Putzsucht sucht ihres Gleichen, und dazu gehört natürlich Geld, nach dem die Evastöchter auf der Suche sind. Die amerikanischen Yänks haben zweifelsohne die holde Weiblichkeit mit Bonbons, Schokolade und Taschen voll Geld auf den breiten Irrweg gebracht. Man erzählt sich Tatsachen, wo Mutter und Tochter einem und dem selben Verehrer huldigten, ohne daß einer die Schamröte die Wangen färbte. Es ist nur der erste Schritt, der Bedenken verursacht; nachher geht’s wie Rosen, angenehm und zuverlässig. Wie würden die Mütter und Heuchler die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen, wenn sie sehen könnten, wie Mädchen und Frauen ohne Männerbegleitung die Cafés besuchen, ihren Humpen oder Cognac bestellen und mit der größten Gemütsruhe unbeirrt wie ein Mann schlürfen. Einem Fremden fällt diese Freiheit auf, in der Heimat ist es ein gewöhnliches Tagesereignis. Die Amerikaner stehen in hohem Ansehen, wahrscheinlich der Moneten wegen. Fälle der größten sind zu verzeichnen. In Groß-Luxemburg betrat ein Amerikaner zum erstenmal ein Café. Die Bar-Maid witterte sofort seine Nationalität, und Herz, was begehrst du, war die stumme Einladung. In den Ortschaften, weit von der Stadt weg, sind die Gefühle und Chancen eines Amerikaners auf dem gleichen Höhepunkt. Der hat bloß zuzugreifen und Amen zu sagen.

Das Bahnhofsviertel ist mit fahrenden Weibern, jungen und alten, verpestet. Die Polizei macht des Scheines halber zuweilen eine Razzia, allein dem notwendigen Übel kann nicht abgeholfen werden. Die Nachteulen gehören in das nächtliche Gebaren einer Großstadt. Es soll nicht in diesen Zeilen gelesen werden, daß die Weiblichkeit durchgängig schlecht geworden ist, aber so viel kann im allgemeinen gesagt werden, daß die Frauenwelt sich emanzipiert hat, und diesem Stadium folgt notwendigerweise vieles auf dem Fuße.“

Mir scheint, seit Herr Merckels nach Amerika ausgewandert ist, hat nicht nur die luxemburger Frauenwelt den „Fortschritt in allen Richtungen zu verzeichnen“, die er oben schildert. Auch Herr Merckels hat in seinem Talent für scharfe Beobachtung und Beurteilung der luxemburger Zustände einen Fortschritt zu verzeichnen, der nur aus dem Einfluß der amerikanischen Psyche auf den geborenen Hollericher zu erklären ist.

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  • progress' in Lux women
KatalognummerBW-AK-010-2270