Original

6. Dezember 1922

Aus Brüssel kommt uns der langgezogene Widerhall der Redeschlachten um die Genter Hochschule: Ob sie vervlamt werden oder ob sie französisch bleiben soll.

Es ist immer eine langweilige Sache, wenn in einem Parlament Streitfragen ausgetragen werden, die sich hauptsächlich um Gefühlswerte drehen und die dann, damit es männlicher aussieht, mit allerhand positivistischen Mäntelchen behängt werden.

Wir haben hier ein Beispiel der Gattung mit dem wirtschaftlichen Anschluß an Belgien erlebt, allerdings in verkleinertem Maßstab. Aber auch da waren neben wirtschaftlichen Rücksichten vielfach gefühlspolitische Beweggründe mit die treibende Kraft, die die Debatten bis zum Platzen aufpumpte.

In Brüssel seien noch dreißig Redner eingeschrieben, heißt es. Wohl bekomm’s! Aber worum geht denn der Streit?

Ich kenne Leute, die schweres Geld ausgeben und sich Jahre lang anstrengen, um Französisch zu lernen. Unsere dicken Bauernsöhne wurden früher alle „auf die Borga“, d. i. die Jesuitenschule von Beauregard bei Metz, geschickt, um französisch zu lernen, und eine Goldkordel über dem Borga-Mützenschirm eines Bauernsprößlings wies ihrem Träger direkt seine Stelle in der von französischer Kultur beleckten Schicht unserer Agronomenkreise an.

Wenn es sich andere also soviel Geld kosten lassen, die Sprache Bossuet’s zu erlernen, wie kommen die belgischen Vlamen dazu, sich gegen eine solche Erweiterung ihrer geistigen Persönlichkeit aus allen Kräften zu sperren? Abgesehen von der Frage, ob das Französische oder das Vlämische als Träger von Kultur und Idee mehr wert ist, fällt es niemand ein zu leugnen, daß Mehrsprachigkeit den Wert des Individuums in vielen. Beziehungen, ideellen und materiellen, erhöhen muß. Also ein Vlame, der außer seinem Vlämisch auch Französisch spricht, hat doppelt soviel Empfangs- und Mitteilungsmöglichkeiten, wie ein Wallone, der nur französisch spricht. Und diese Verdoppelung weisen die Vlamen von der Hand, denn prinzipiell kommt es darauf hinaus, wenn sie die Vernichtung einer bestehenden französischen Universität und ihre Ersetzung durch eine flämische vorlangen. Sie lehnen im Namen ihres völkischen Gefühls, ihrer Rasse grade das ab; was wir hier z. B. als Wahrzeichen unserer Eigenart und als Staatseinrichtung besitzen und festhalten, d. i. die Zweisprachigkeit. Mit dem Unterschied allerdings, daß für uns beide Sprachen fremd sind, und es keinem einfiele, hier die Gründung einer Universität zu fordern, auf der über die Relativitätstheorie. Einsteins oder die Philosophie Bergsons in dem Platt vom Fischmarkt Kollegien gelesen würden.

Früher schlugen sich die Völker- und innerhalb der Völker die Parteien die Schädel ein im Namen der Religion zur größeren Ehre Gottes. Heute tritt die Sprache anstelle der Religion, und jeder hält seine Sprache für die schönste und beste, wie jeder seine Religion über alle andern stellt. Jeder Fidji-Insulaner wäre imstand, Ihnen zu beweisen, daß er Gott in der einzig richtigen Weise verehrt und daß Sie auf einen lächerlichen Götzendienst eingeschworen sind. Herr Julius Hoste weiß bestimmt, daß seine Muttersprache über der des Herrn Wilmotte steht. Weil es eben seine Muttersprache ist. Denn wir hängen mit unserer Sprache viel, viel inniger zusammen, als oberflächliche Beobachtung verraten mag. Wer in urteilsfähigem Alter eine fremde Sprache erlernt und sie einigermaßen zu beherrschen anfängt, wird auf Schritt und Tritt die Zusammenhänge des Charakter des Volkes herausfinden. Wer Muttersprache aufgeben soll, empfindet deutlicher etwas von seiner Ganzheit aufgeben muß, sträubt sich dagegen, wie gegen jede Beeinträchtigung seines Individuums.

Aber in Gent liegt der Fall ja nicht so, umgekehrt, es kommt nicht auf eine Schwächung, Verarmung, sondern auf eine Stärkung und reicherung des Individuums hinaus.

Aber beweisen Sie das einem Mann, der Gegenteil fühlt oder fühlen zu müssen glaut.

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