Im Straßenbild der Stadt erschienen gestern gegen Mittag hier und da, zumeist in der Umgebung des Zivilkasinos, allerlei Gestalten im Festtagsgewand, die nicht zur alltäglichen Staffage gehörten. Es waren geistliche Herren in den besten Jahren und in der Sonntagssoutane, Zivilisten im Bratenrock: Ingenieure, Arzte, Advokaten, Beamte, Kaufleute, Notare, Professoren usw., kurzum, die Blüte des Landes. Sogar einer, der alle Merkmale eines gutsituierten Bürgers der Vereinigten Staaten von Amerika zur Schau trug.
Es handelte sich um keinen Kongreß, keinen Kapitelstag, kein Begräbnis, keine Hochzeit und keine Kindtaufe. Sondern die Prima von 1898 feierte mit einem Festessen im Kasino den fünfundzwanzigsten Jahrestag ihrer Abgangsprüfung.
Diese Prima ist unstreitig eine der gesündesten Primen, die sich je um die Zeit der Frühbirnen und ersten Pflaumen durchs Abitur geschwitzt haben.
Von den 59 Kameraden, die in den beiden Sektionen zusammen saßen, leben heute noch 56. Und einer davon, der sogar schon totgesagt worden war, Herr Mathias Thoma aus Hamm, ist eigens über den Atlantischen Ozean herüber geschwommen, um zu zeigen, wie lebendig er noch ist. Und die paar Achtundneunziger, die ich gestern sah und von denen eingangs die Rede ist, sehen alle miteinander auch noch gar nicht so aus, als ob sie in absehbarer Zeit des Todes verbleichen möchten.
Infolgedessen brauchte man den überlebenden 56 zu ihrem Erinnerungstag von gestern nicht extra guten Appetit zu wünschen, zumal das Kasino ihnen ein Menü bereitet hatte, das der besten Klinge würdig war. Es begann mit Forellen, die einer von den 56 in der Nimbs geangelt hatte, und endete mit Krebsen, die die Überlegenheit der luxemburger Art siegreich verkündeten.
Als die 59 Primaner vor fünfundzwanzig Jahren ihr Maturum beim Humpemisch feierten, bestand die Speisen- und Getränkfolge aus einem Schinken und einem Fäßchen Münchner Bier. Wer hätte 1898 geahnt, daß damals das pompöse Menü von gestern billiger gewesen wäre, als einfach Schinken und Bier es heutzutage sind!
Ein Festessen, wie das gestrige, verdient öffentliche Erwähnung, denn es ist an und für sich eine erfreuliche Erscheinung. Nicht nur, weil es eine treffliche Illustration zu dem alten Liedchen ist: „Freut Euch des Lebens - Weil noch das Lämpchen glüht,“ sondern weil Zusammenkünfte dieser Art zur Gesundung des öffentlichen Lebens beitragen.
„’t aß neischt iwer uni,“ sagte der Anstreichermeister, der nur das Tünchen mit Kalk gelernt hatte. Im Leben aber gilt das nicht. Es kann da nicht einer von derselben Farbe sein, wie der andere, sonst würde die Sache am Ende wirklich zu langweilig. Also muß es links und rechts, oben und unten, rund und eckig geben, soll das Leben nicht zu einem Entenpfuhl verwässern. Und die von hübeu müssen denen von drüben vor den Kopf sagen, was sie für wahr halten, und umgekehrt.
Wenn aber von Zeit zu Zeit die von hüben und die von drüben die Beine unter denselben Tisch strecken, dann bleibt das Gehässige, Giftige und Vergiftende aus ihren Waffengängen heraus und die tiefsten Wunden, die man sich schlägt, heilen aseptisch aus.
Die Solidarität des Abiturs ist nicht künstlich gemacht. Sie beruht auf gemeinsamer Arbeit, gemeinsamem Streben und gemeinsamem Wettbewerb durch sieben Jugendjahre, die Jahre, in denen die Seelen am leichtesten in tiefer Freundschaft zusammenschmelzen. Das Leben reißt die Freunde auseinander, so ein Festessen bringt sie wieder zusammen, beim Kaffee und bei der Zigarre bilden sich die spitzen Ecken, in denen die alte Freundschaft aufgefrischt wird.
„Komm mich doch mal besuchen!“
Jawohl, besucht Euch, lernt Euch wieder kennen, überzeugt Euch, daß zwischen hier und dort, zwischen der Umwelt des Einen und der des Andern nicht der Abgrund klafft, den Ihr Euch einbildet und an dessen Rändern Ihr hüben und drüben mißtrauisch auf der Lauer liegt.