Original

5. August 1923

Der Herr Kollege lachte.

„Für Sie führt der Weg in die Ferien über den Papierberg.“

Tatsächlich häufte sich in der Ecke ein Berg von Zeitungen. Zeitungsausschnitten, Briefen, Manuskripten, Broschüren. Darüber schwebte der Geruch, der durch alten Zimmerstaub im Verein mit vergilbendem Papier erzeugt wird. Was lag da nicht alles begraben, jählings emporgerissen, zum Untergang bestimmt, nachdem es seit Jahr und Tag als wertvolles Dokumentierungsmaterial zusammengehalten worden war. Unzählige Blätter und Schnitzel, sorgfältig aufgehoben, aufs geratewohl, wie die „Puppenstücke“, die junge Mädchen bis über ihre Verheiratung, bis über ganze Kinderreihen hinaus aufheben, denn wer weiß, nicht wahr, wo man so ein Läppchen noch wird gebrauchen können!

Da liegen Päcke von Zeitungsnummern und Briefen, die sich auf ein dazumal hochwichtiges, heute längst vergessenes Ereignis beziehen, Manuskripte, die auf dem toten Punkt zwischen Annahme und Rücksendung hängen geblieben find, Zeitungsausschnitte mit Angriffen, auf die man erst antworten wollte und dann doch nicht geantwortet hat, weil der eine im Grund ein anständiger Mensch ist, der vielleicht glaubte, was er schrieb, und der sich später von selbst des Geschriebenen schämen wird, und weil der andere ein dreckiger Patron ist, den man überhaupt nicht anfaßt.

Und so sammelt sich Tag um Tag der Papierberg an, weil man im Augenblick mit etwas nichts anzufangen weiß und doch vielleicht noch etwas ansangen möchte, morgen, übermorgen - wer weiß.

Ganz sicher liegt da in dem Papierhaufen allerlei unglaublich interessantes Zeug - Zettelkastennaturen hätten sich daraus Stoff für ganze Kilometer Manuskript ausgelesen - Schluß! Sonst packt mich die Lust, den Berg wieder umzugraben und das Interessanteste für nach den Ferien doch noch beiseite zu legen. Und es gäbe mir aufs neue einen Stich ins Herz, wenn ich wieder eine Handvoll Blätter opfern sollte................

Jenseits des Papierberges liegt die schöne blauweißrote Welt: Die Ströme, in denen sich die grünen Inseln und die weißgrauen Städte spiegeln, die Seen, über deren Bläue die hellen Dampfer ziehen, deren Ufer von dem feinen Herbstnebel überhaucht sind, durch den die Dächer der Villen schimmern, die Gärten der Fremde, in denen die Geranien glühen - die schöne, liebe Herrgottswelt, die der Krieg ver- schandelt hat, in der man sich vor Grenzversch vor Valuta, Paßvisa, Einreiseerlaubnis, vor dem Haß und alter Dummheit der Menschen nicht auskennt. Wer mag sich denn heute mit sch Schiebern und Schiebersgattinnen um einen Schnellzug streiten und an einen Hoteltisch acht Tage relativer Ruhe mit drei Reisekam bezahlen und dabei riskieren, daß einem irgendein Streik, eine Revolution oder eine Grenzsperre Rückkehr abschneidet!

Ja, wenn die Sehnsucht ins Weite nicht

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    Katalognummer BW-AK-011-2464