„Ich hätte wahrscheinlich nie unser Ösling gesehen, wenn ich nicht eines Tages angesangen hätte, Rad zu fahren.“
Tausende sind im selben Fall, wie der junge Mann, der mir kürzlich das obige Geständnis machte. Und noch mehr sind im umgekehrten Fall. Es gibt im Süden des Ländchens ganze Dörfer, aus denen noch niemand die öslinger Berge gesehen hat, und umgelehrt leben im Ösling Tausende, die nie einen Fuß ins Moseltal gesetzt haben.
Die andern, die besser in der heimischen Geographie zuhause sind, verdanken dies vielleicht nicht direkt dem Umstand des Radfahrens, aber es ist Tatsache, daß mit der Popularisierung des Fahrrades mehr Bewegung, mehr Reiselust ins Volk kam. Es war, als seien die Massen aus der Trägheit von Jahrhunderten aufgerührt und in Umdrehung versetzt.
Der Anstoß ging weiter. Aus einem Spielzeug wurde das Rad, dank dem Kugellager und dem Luftreifen, zu einem Fortbewegungsmittel, das die Erfinder immer weiter trieb, bis die Beine durch Maschinenkolben ersetzt waren und das Automobil das Zweirad abgelöst und übertrumpft hatte.
Heute ist das Auto in viel weiterem Maße, als die Eisenbahn, eine Angelegenheit des öffentlichen Lebens. Die Arbeit der Bahn vollzieht sich hinter verschlossenen Türen und Gittern, sozusagen in einem Käfig. Das Auto mischt sich mitten ins pulsierende Leben, paßt sich ihm an, tritt mit ihm in unmittelbare Wechselwirkung, wächst als ein Lebendiges in es hinein, teilt ihm von seinem Odem mit, feuert es zu rascherem Tempo an. Es wäre ein Buch über den psychologischen Einfluß des Autos auf das Verkehrswesen Mensch zu schreiben. Das Auto zieht hinter sich nicht nur die Aufgestörtheit des Wirbelwinds und des Staubes her, hinter ihm drein fliegen tausend Sehnsüchte aus Seelen, in denen der Wunsch nach den Höhen des Ledens erwacht und groß wird und sich vielleicht einmal erfüllt.
Eine Prophetin des Autos war seit Jahren die Pariser «Illustration». Sie begleitete es mit Wort und Bild auf seinem Triumphzug, registrierte Erfolge und wies Wege. Auch jetzt hat sie wieder ihre letzte Nummer - 3. Oktober 1925 - dem Automobil und Tourismus gewidmet. Denn dieser ist in seiner heutigen Form und Entfaltung durch jenes bedingt. Gegenden, die den Todesschlaf in unsäglicher Schönheit und Dumpsheit schliefen, wachen wieder auf vom Rattern und Singen des Motors. Herrliche französische Provinzstädte, voll von Wundern alter Baukunst, mit entzückenden Straßenbildern, eingebettet in Landschaften von überraschender Bildhastigkeit - tichtige Dornröschenstädte, zu denen als einzige Prinzen die paar Geschäftsreisende kamen, die im Hotel köstliche Weine tranken zu den Gerichten, die ihnen die Wirtin nach den Rezepten ihrer Großmutter kochte - die sind heute wieder Mittelpunkte des Fremdenverkehrs, in den Hotels muß man vierzehn Tage vorher Zimmer bestellen, Essen und Trinken sind teurer, aber noch edenso gut, und die Geschäftsreisenden erzählen von den vorgangenen Zeiten, wo sie abends mutterseelenallein zu zweit im Tafé Domino spielten, der eine, dar Ellenwaren, und der andere, der Kolonialwaren verkaufte.
In dem Maße, wie das Auto zu einem wesentlichen Bestandteil des öffentlichen Lebens wird, wird seine Benutzung zur Kunst, „Elle n’aurait pas atteint son prodigieux développement, si elle n’avait prêté qu’aux riches,“ schreibt Régis Gignoux in einem weitschauenden Artikel in der erwähnten Oktobernummer der «Illustration». Und weiter: „Le vieux chauffeur d’il y a vingt-einq ans découvre les véritables automobilistes. Ce sont ceux qui ne considèrent pas l’automobile comme un engin de vitesse, c’est-à-dire un instrument de laboratoire, de luxe, mais comme un instrument de locomotion pratique, comme un instrument de travail.“
Und als Ergänzung zu dem fesselnden technischen Tell, den die «Illustration» dem Auto widmet, bringt sie aus den Federn erstklassiger französischer Schriftsteller Aufsätze, aus denen zu lernen ist, wie man im Auto reisen und das Gesehene verarbeiten soll: Honfleur, les Landes de jadis, Le tourisme automobile et la route des Alpes, La presqu’île de Crozon au péril de la mer, A travers l’Afrique romaine - alle Aufsätze mit sarbigem und schwarzweißem Bildschmuck in der Vollendung, wie sie allen Erzeugnissen der «Illustration» eigen ist.
Ein luxemburger Tourist wurde kürzlich am Genfer See von einem Herrn angeredet, der ihn auf luxemburgisch um Feuer für seine Pfeife bat. Dann erst erkannte er ihn. Veide waren bis Genf im Auto gereist. Der eine hatte dafür acht Tage gebraucht. Der andere war an einem Tag von Luxemburg bis Befançon gerast.
Ich überlasse dem geneigten Leser, sich auszumalen, weicher von beiden den größten Genuß von seiner Reise hatte.