Original

15. Januar 1921

Im Wawerbusch bei Beles fand ein freundlicher Leser am 6. Januar ein einsames Schlüsselblümchen. Er pflückte es und schickte es mir mit ein paar lieben Zeilen. Denn es war gewiß eine Merkwürdigkeit, und Merkwürdigkeiten gehören in die Zeitung. Lieber von einer blühenden Schlüsselblume im Januar gemeldet, als von einem doppelten Raubmord.

Zur selben Zeit fing in Fels eine junge Dame einen Schmetterling, tat ihn in eine Streichholzschachtel und sandte ihn mir durch die Post. Er hatte die ernste Farbe alter Eichenborke, an den Flügelrändern einen helleren Saum. Und dann erhielt ich von einem Stadtfräulein in einer Schachtel, deren Deckel siebartig durchlöchert war, noch einen Schmetterling, ein zitteriges Zitronenfälterchen, dem in seinem Pappdeckelgefängnis zumut sein mochte, wie einem Cherubim, der sich aus dem Himmel in ein Stellenvermittlungsamt verirrt hätte.

Da saß ich nun mit meinen drei SonnenkinderAnachronismen und wußte nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte.

Zunächst gab ich sie alle drei zusammen in die Schachtel des Zitronenfalters und ließ sie aufeinander reagieren. Das Schlüsselblümchen und das Fälterchen fanden sich sofort zusammen, der Braune blieb versonnen in seiner Ecke sitzen.

Allmählich entspann sich ein Gespräch. Blume und Falter redeten weitläufig davon, daß sie sich verfrüht hätten, daß sie Frühlingskinder seien. Der Braune aber sagte, er habe sich verspätet. Er sei noch vom letzten Sommer übrig geblieben.

Da verachteten ihn die andern und strichen ihre Vorteile heraus, hielten die Zukunft gegen die Vergangenheit, den Morgen gegen den Abend. Sie seien die Herolde der Wonne- und Maienzeit. Sie seien die Flamme, der Braune sei die Asche, sie das Werden, er das Vergehen. Ihnen gehöre die Zukunft, die Fülle, die Welt, ihm die Vergangenheit, die Leere, das Nichts. Und er solle sich schämen, daß er unter diesen Umständen noch den Anspruch erhebe, als Kuriosum in die Zeitung zu kommen.

Da sagte der Braune leise und verträumt: „Ich bin der Reichste, ich habe meine Ernten eingescheuert, Eure sind kaum gesät. So gewiß Erinnerung reicher ist, als Hoffen, so gewiß bin ich reicher, als Ihr. Zukunft ist nichts, ist das Ungeborene, Unwirkliche, nicht einmal immer Wahrscheinliche und Mögliche. Vergangenheit ist Wirklichkeit, Gewachsenes, Geerntetes, ist schön oder häßlich, freudig oder traurig, aber ist, weil es war. Ich kann davon leben, kann davon zehren. Ihr wißt nicht, was wird, ich aber weiß, was war. Ich bin in warmem Sonnenlicht, über grünen Wassern und im heißen Mittagsduft der Herbstblumen geschwommen, ich habe mich auf schwanken Halmen schaukeln lassen und bin durch die Herbstfreuden, die allein Erfüllung bringen, getaumelt. Und Ihr! Wißt Ihr, ob Euer Frühling nicht eitel Schneegestöber und Spätfrost und Dreck und Speck und Sauerkraut sein wird? Ob Ihr nicht, wie so viele, an Euerm Hoffen und Harren zum Narren geworden wäret? Ich habe die letzte Rose geliebt, und ich sage Euch, die letzte Rose ist schöner, als die erste!“

Also sprach der Braune und seine Flügel zitterten leise.

Und das Schlüsselblümchen sagte: „Er hat recht, ich wollte, ich hätte seinen Sommer und Herbst erlebt, statt daß ich nun ohne Frühling mitten im Winter sterben muß.“

„Wer weiß?“ sagte das Zitronenfälterchen. Denn es hoffte mitten im Januar auf den Mai. Und hatte nicht die Kraft mehr, ihn zu erleben!

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    Katalognummer BW-AK-009-1819