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19. Januar 1921

Meminisse juvabit. Es macht Spaß, mitten im Dreck und Regenwetter an den letzten Sonnentag zu denken. Daß man am Sonntag, den 16. Januar 1921, auf der bekannten Hotelterrasse in Ehnen den Kaffee im Freien trinken konnte. Daß man stundenweit die Mosel entlang wandern konnte, auf dem hellgelben, trocknen Straßenband, neben dem ziehenden Strom einher, wie gute alte Kameraden.

Zur Feier des Jahrestages sozusagen hatte die Mosel sich in Kosten gestürzt und war ihren Uferrändern entgegengestiegen, über die sie sich vor Jahresfrist unbändig hinweg ins Land, in die Straßen, die Häuser, die Stuben der Menschen ergossen hatte, unheimlich Stufe um Stufe die Treppen hinauf, die Stuhl- und Tischbeine hinauf, die Bettpfosten hinauf, wie ein Dieb in der Nacht. Ach, sie ist ein Gutgesell, wenn sie uns daheim bei sich empfängt, aber wenn sie zu uns auf Logierbesuch kommt, beträgt sie sich, wie ein Rowdy.

Also sie wollte den Jahrestag mit einer kleinen Überschwemmung feiern, aber es wurde eine kurzatmige Anstrengung. Sie brachte es nirgends bis über die Ufer, und Sonntag hatte sie es schon aufgegeben, sie zog sich zurück und gab überall die gewundene weiße Linie des Ufereises preis, die wie eine Saumnaht über das grüne Wiesenkleid lief.

Die Vögel schimmerten mit braunem und schwarzem und gelbem und rotem Gefieder in der Sonne, als hätten sie Feiertagskleider an. Und auf einmal war da auch der Eisvogel, der seltsame Gast, Martin der Fischer, und flog wie ein lebendiges Juwel über Land und Wasser. Erst sah ich es blaugrün metallisch auf der Spitze einer Weidenrute leuchten. Beim Näherkommen erblickte ich die rote Weste, die der Märchenvogel sich zu seinem blaugrünen Frack farbenfroh assortiert hat, dann konnte ich den dünnen, langen Zeiger des Schnabels wahrnehmen, der von dem gedrungenen Kopf keck hinausstand. Ein phantastisch von der Umwelt unserer Breiten abstechender Kolibri großen Formats, ein Stück Tropenfauna in einem mitteleuropäischen Wintertag. Jetzt flurrt er ab, eine Strecke weit über das matte Grün des Uferrains, so unwirklich, so anilinfarbig von der Naturfarbe des Bodens abstechend, daß man an eine Kunstfigur zum Aufziehen glauben möchte. Er fliegt quer über die Mosel, hält sich weit vom Schuß, denn er weiß, die Menschen sind voller Gier nach dem Kleid eines solchen farbigen Prinzen aus dem ewigen Sonnenland.

Ein Förster radelt in seinem Sonntagsrock aus grünem Tuch vorbei, fern leuchtet die Appretur im Sonnenstrahl, er hat genau dieselbe Farbe wie der Marchenvogel aus den Tropen, der Gott weiß wie in unsere Fauna hereingeraten ist und den Gesetzen der Anpassung zum Trotz sein exotisches, aufregend fremdartiges Kleid bewahrt hat.

Auf der Terrasse in Ehnen ist es an diesem leuchtenden Sonntag Mittag weiß Gott schöner, als im Sommer, wenn drunten Auto an Auto einschwenkt, es drinnen nach gebackenen Fischen, draußen nach Benzin riecht. neureicher Luxus sich breit macht, Damen auf den Kribben unbeholfen mit flachen Kieselsteinen schuffeln und ihr Entzücken über das Landleben äußern.

Schwer, trächtig und glitzernd gleiten die Wassermassen zutal und man hat das befreiende Empfinden: Wenn’s Dir hier zu kahl wird, schiebst Du ein Brett aufs Wasser und läßest Dich glücklicherem Schicksal, weiterem und fremderem, freundlicherem Leben zutreiben. Hier bist Du in Verbindung mit aller Welt bis hinunter ans Meer.

Weiter trägt Dich der Fuß und die Sehnsucht. Im Schein der Nachmittagssonne tauchen sich die Uforberge in ein warmes Violettbraun. Du ziehst mit dem ziehenden Strom talab, wie beschwingt von der Kraft, die ihn treibt, den Perlenreihen der Lichter entgegen, die sich bei Grevenmacher Wellen mit schlanken, zitternden Dolchklingen im Wasser spiegeln.

Und Du trägst den ganzen Sonnentag mit dem seltsamen Erlebnis des Tropenvogels, mit der Erinnerung an fröhliches Wiedersehen, mit der Liebe zum heimatlichen Strom, mit dem Bild der besonnten und gastlichen Terrasse und der Freude an einsamer Wanderschaft wie einen Schatz nachhaus.

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    Katalognummer BW-AK-009-1822