Original

20. Januar 1921

Das Stück spielt an einer unserer zahlreichen Landesgrenzen. An welcher, braucht nicht gesagt zu werden, denn überall wiederholt sich tagtäglich dasselbe Schauspiel.

Ein paar Arbeiter mit schwieligen Händen und müden, apathischen Gesichtern trollen sich aus ihren Abteilen heraus über den Bahnsteig zum Zoll- und Paßbüro. Ein Mann in dunkelgrüner Uniform steht an einem Pult und schreibt in ein Buch. Sie reichen dem Mann kleine, dünne Hefte, er tut einen Blick hinein, wirft einen zweiten, prüfenden Blick zurück auf das Gesicht des fremden Arbeiters und nennt eine Summe. Das Gesicht des Arbeiters verzieht sich schmerzlich, er holt aus der Tasche ein abgegriffenes Geldbörschen und legt den Betrag auf das Pult. Der Mann in Grün gibt ihm sein Heft zurück und der Arbeiter trollt sich zurück über den Bahnsteig in sein Abteil. Er flucht leise, vielleicht gar nur in Gedanken vor sich hin, denn die Summe, die sie ihm abgenommen haben, stellt seinen Verdienst für eine halbe Woche dar.

Dieser Arbeiter bringt uns die Kraft seiner Arme ins Land, sein Zuzug bedeutet für unsere Wirtschaft eine Wertevermehrung, zu der wir uns Glück wünschen sollten. Statt dessen legen wir dem Mann eine Steuer auf, die im Verhältnis zu dem, was andere bezahlen, unerhört ist. Und umgekehrt machen es die andern Länder gradeso.

Es hieß immer, die Paßvisagebühr sei als Schutz gegen die Gefahr des Bolschewismus gedacht. In jüngster Zeit hat eine offizielle französische Persönlichkeit in Brüssel erklärt, die Staaten sehen heute in der Paßvisasteuer eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle.

Ist dem wirklich so und hängt sich der Fiskus jetzt mit seinen Saugarmen an den Verkehr und an die Freizügigkeit der Arbeitskräfte, so ist das ein selbstmörderisches Beginnen, ein Verbrechen wider den Heiligen Geist jedes Fortschritts und ein Verbrechen an der internationalen Arbeiterschast.

Soll aber die Paßvisagebühr eine Art Sieb gegen die Gefahr des Bolschewismus darstellen, so ist sie grade in diesen Tagen so drastisch ad absurdum geführt worden, daß darüber von Gibraltar bis Moskau Europa sich vor Lachen schüttelte. Ich meine das räuberromantische Abenteuer der Klara Zetkin in Tours. Weniger internationalen Widerhall fand die Wiederholung dieser Komödie in Differdingen, wo die rote Klara sich nicht zu verstecken brauchte, wie in Tours, sondern ab und zu ging, als sei sie niemals etwas anderes gewesen, als die geborenste und waschechteste Luxemburgerin. Entweder hatte sie einen Paß, und dann ist also der Vorwand, daß Bolschewisten an der Paßgrenze zurückgehalten werden sollen, eben nur ein Vorwand. Oder sie hatte keinen, und dann liegt also zutage, daß die Pässe nur für die Dummen sind.

Die Arbeiter, die den Tagelohn einer Woche für diese Paßkomödie bezahlen müssen, sind vielleicht noch keine Bolschewisten, aber können es werden, wenn der Racker von Staat so mit ihnen umspringt. Ihre Kameraden, die als Bolschewiki registriert sind, bezahlen keinen Paß und kein Visa.

Klara Zetkin hat in ihrem Leben noch nie etwas so klar bewiesen, wie daß das Paßwesen zum Unwesen geworden ist.

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    Katalognummer BW-AK-009-1823