Original

21. Januar 1921

Vor mir liegt ein Hühnerei, das mir ein Leser als Abnormität eingesandt hat.

Ein normales Hühnerei, sagen sie, hat den Nährwert eines Cotelelts. Sechs normale Hühnereier genügen zu einem Omelett, das seinen Mann ernährt. Manche vertragen auch neun.

Das Ei, um das es sich hier handelt, ist so klein, daß eine Spätzin sich vor ihrem Spatz schämen würde, es gelegt zu haben. Es ist nicht größer, als eine mittelgroße Waldhaselnuß. Aber es ist ein authen- tisches Hühnerei Seine Schale ist rauh, man spürt unter den Fingern die einzelnen Sandkörner, aus denen das Huhn sie gebaut hat. Und außerdem, mein Gewährsmann verdient unbedingt Glauben.

Zu dem heutigen Marktpreis der Eier würde eine Psanne voll dieser Miniaturpodukte zirka 300-400 Franken zu stehen kommen.

Die Zeologen werden sagen, solche Zwergeier seien keine Seltenheit. Ich fürchte, wir haben es hier mit etwas anderm zu tun, als einem Ei-Phänomen. Ich fürchte, im Reich der Haustiere haben sie gemerkt, was für eine Bewegung nach dem Krieg überall in der Gesellschaft eingesetzt hat, und sie wollen es den Menschen nachmachen. Die Hühner denken: Wozu sollen wir heute, wie vor 100, 1000, 10 000, 100 000 Jahren von früh bis spät aufs Eierlegen bedacht sein, wo die Menschen doch den Achtstundentag eingeführt haben? Warum sollen wir nur ein Ei legen, wo wir mit demselben Rohmaterial zwanzig und dreißig herstellen können, die sich außerdem viel leichter legen lassen? Wir lassen uns nicht länger ausbeuten, wir setzen eine Hühnerräterepublik ein, wir verlegen uns dem Menschen gegenüber auf den passiven Widerstand, wir legen so wenig Eier, wie möglich, und diese so klein, wie möglich. Hoch das Hühnerproletariat!

Die Hühner machen den Anfang, wie wir gesehen haben. Aber schon hört man im Hintergrund das Schwein grunzen: „Ich pfeife Euch in Zukunft Schinken von zehn und fünzehn Pfund. Wenn Ihr glaubt, es macht mir Spaß, in einem fort mich dick zu fressen, damit Ihr später Eurerseits dasselbe mit meinem Speck und Gepökeltem und Geräuchertem tun könnt, so beweist Ihr eben, daß Ihr eine eingebildete und einfältige Rasse seid.“ - Und statt Schinken so groß wie eine Gitarre, werden wir künftig Schinken so klein wie Hammelkoteletts in den Rauchfang hängen. Die Pferde werden sich auf die Forderung der drei Acht berufen, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit, acht Stunden Vergnügen mit techt viel Hafer, sie werden vielleicht Pferche mit Gelegenheit zum Fußballspielen verlangen - warum nicht? Die Kühe werden uns Milch nach Fingerhüten statt Litern geben, und so wird es durch die ganze Skala hindurchgehen.

Und dann wird der passive Widerstand auf die Pflanzenwelt übergreifen. Die Weizenähren werden finden, daß ein Korn pro Ähre genügt, höchstens werden sie sich zum Zweikindersystem bereit finden, der Kartoffelstock wird uns Knollen wie Knicker tragen und finden, daß der dümmste Kartoffelstock die dicksten Kartoffeln hat, gelbe Rübchen werden wir ziehen in der Größe von Backenzahnwurzeln. Und die Ströme und Flüsse und Bäche und Quellen werden sich auf das Notwendige beschränken usw. usw.

Nur die Nachtigallen werden singen und die Rosen werden blühen, wie immer, denn sie verstehen nichts von Sozialpolitik.

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    Katalognummer BW-AK-009-1824