Original

28. Januar 1921

Mein Freund ärgerte sich, als im Gespräch die Worte arbeiterfreundlich und arbeiterfeindlich fielen.

„Was heißen diese Vokabeln heute noch!“ fragte er sarkastisch. „Bin ich arbeiterfreundlich oder -feindlich? Ich komme, Du weißt es, aus den Tiefen des Volks, ich besitze nichts, als meine Arbeitskraft, am Tage, wo ich aufhören müßte zu arbeiten, säße ich mittellos auf dem Pflaster, wie der waschechteste Proletarier. Ich liebe die Arbeiter, weil sie mir wesensverwandter sind, als die, zu deren Familienüberlieferung der Besitz gehört. Und trotzdem bin ich überzeugt, wenn heute die Woge des Bolschewismus über uns hereinbräche, so ginge es mir nicht besser, als dem armen Albert Becker, den die russischen Bolschewiki im Kerker haben verhungern lassen.

Ich kann den Weg zum Glück nicht mit dem Proletariat gehen, weil ich sicher bin, daß es der falsche ist.

Ich bin in eine Welt voll schöner, organisch gewachsener Kultur hinein geboren. Ich will an diesen Kulturgütern, die ich über mir erblicke, meinen Teil haben. Ich will das Niveau gewinnen, auf dem sie mir zugänglich sind. Dies wird mit vielleicht in meiner Person nur unvollkommen gelingen. Aber ich denke, daß mein Vater und Großvater und Urgroßvater dasselbe Streben in sich fühlten, einer immer stärker und bewußter, als der andere, und einmal wird es uns, die wir im Blute eins sind, hinauftragen.

Das Proletariat will dasselbe. Es drängt auch zum Genuß der Güter und Werte, die eine organisch gewordene Kultur durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch geschaffen hat. Aber um sich diese Sehrsucht zu erfüllen, findet es nichts Besseres, als dieselben Güter und Werte, zu deren Genuß es drängt, zu zerschlagen und zu zerstören. Es gleicht dem Mann, der auf die Plattform eines Turmes steigen möchte, um weit in die Lande zu sehen, und der zu diesem Zweck den Turm einrisse. Es will eine neue Kultur auf den Trümmern der alten bauen und wird damit dieselbe Gesellschaftsordnung wieder schaffen, die es heute in Stücke schlagen will.

Sie sagen, der Kampf sei das Notwendige, das Normale. Die Welt müsse in Blut und Feuer erneuert werden: Hoch die Revolution! Sie weisen auf die französische Revolution hin, die auch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet habe. Ich hatte geglaubt, es gehöre zum Fortschritt, daß man heute Konflikte ohne Schädeleinschlagen und Köpfen beilegen kann. Wer, wie die Sozialisten, ein prinzipieller Gegner des Krieges ist, müßte auch sonst alle gewaltsamen Lösungen verabscheuen. Statt dessen scheint man Lust zu haben, noch heutzutage den Kindermord zu Bethlehem und die Bartholomäusnacht als Kulturtaten ersten Ranges zu feiern.

Daß das Leben heute lebenswerter ist, als in den Tagen des Reandertalmenschen, ist hoffentlich unbestritten. Die Schönheit, Ausgeglichenheit, Harmonie und alle begehrenswerten Vollkommenheiten, die das Leben heute zu bieten hat, sind in ihrer. Gesamtheit bedingt durch Muße und Besitz. Muße und Besitz sind die Organe, die die Funktion Genuß schaffen. Im Wettlauf darum macht die Chancen gleich, aber laßt sie als Ziel bestehen.

Wir wollen, sie und ich, zum Genuß gelangen, ich durch Erhalten und Ausbauen der Kulturgüter und der Wege, die dazu führen, sie durch den großen Kladderadatsch, der doch allmählich wieder zur selben Schichtung der Gesellschaft führen würde. Denn nur in dieser Schichtung, in der Relativität aller Genußwerte liegt das Glück und liegt der Auftrieb.

Den Kladderadatsch mache ich nicht mit. Weil ich mich mit den Arbeitern solidarisch fühle, aber die Dinge anders sehe, als sie. Und auch, weil ich in ihren Reihen und in den Reihen ihrer Führer Leute sehe, hinter und neben denen ich nicht marschieren will. Neben den Überzeugten sehe ich die Snobisten, die verrotteten Rasseausläufer, die sich persönlich und in Blutsolidarität mit ihren Vorfahren an der schönen alten Welt verekelt haben und jetzt mithelfen wollen, sie in Stücke schlagen, ehe auch wir uns an die Tafel setzen konnten.

Die Bolschewiki werden uns keine schönere Welt bauen können, als die von heute, und wenn der neue Baum, den sie heute pflanzen zu wollen vorgeben, einmal so groß ist, daß er Schatten geben kann, dann wird es in der Welt wieder dasselbe hoch und nieder geben, wie heute, und die ganze Kraftanstrengung war nur ein Rausch mit einem langen Katzenjammer.“

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    Katalognummer BW-AK-009-1830