Original

29. Januar 1921

In seinem anregenden, heute durch den Weltgang stellenweise überholten Buch «The Future in America», erzählt H. G. Wells von einem Erlebnis, das mir derart einging, daß ich es für meine Leser kurz wiederholen will.

Wells beunruhigt sich über den Zustrom minderwertiger Volkselemente nach den Staaten. Er befürchtet davon u. a. eine Verwässerung des Rationalbewußtseins, eine Hemmung des Nationalwillens, auf denen für Amerika die Zukunftshoffnungen beruhen

Eines Tages teilte er seine Befürchtungen einer jungen Dame in New York mit, die sie mit den Worten niederschlug: Kinder sind bessere Bürger als die alten Amerikaner. Wells begleitete dann die Lady nach der New Yorker Zentralschule der Educational Alliance in East Broadway. Sie führte ihn in ein Klassenzimmer, in dem glanzäugige jüdische Knaben und Mädchen grade dabei waren, zu Gesang mit Klavierbegleitung kleine amerikanische Fahnen im Takt zu schwingen.

„Gott segne unser Geburtsland“ - sangen sie, mit starken Abweichungen in bezug auf Aussprache und Deutlichkeit, aber mit echt innerlicher Bewegung.

Einige von ihnen waren in Amerika seit einem Monat, andere viel länger, und nun waren sie im Begriff, amerikanisiert zu werden, unter den Auspizien der reichen Juden von New York und der begeisterten Leitung eines Herrn Blaustein. Sie sangen von Amerika, dem „süßen Land der Freiheit“. - Wells beschreibt im Einzelnen die Freiübungen, die die Kinder, in jeder Hand ein Fähnchen und mit vor Lust geröteten Gesichtern, ausführten. Zum Schluß standen sie auf, wiederholten unisono den Weiheschwur an Amerika und trabten dann in einer Reihe am Besucher vorbei aus dem Saal.

Der Schwur lautete: „Fahne unserer großen Republik, die uns in der Schlacht befeuert, uns Haus und Herd beschützt, deren Sterne und Streifen das Sinnbild der Tapferkeit, Reinheit, Wahrheit und Einigkeit sind, wir grüßen dich! Wir, die wir aus fernen Ländern stammend Ruhe finden unter deinen Falten, wir weihen unsere Herzen, unser Leben, unsre höchste Ehre, dich zu lieben und dich zu schützen, dich, unser Land und die Freiheit des amerikanischen Volkes allezeit!“

„Vielleicht“, sagte Wells, „bildete ich es mir nur ein, aber während ich da stand und den Kindern zusah, wie sie stolz vorbeizogen schien mir, als ob Augen den meinen begegneten, triumphierend und siegesgewiß, - denn war ich nicht einer von jenen Briten, denen die Freiheit abgerungen worden? Aber das war ein unwürdiger Verdacht. Diese Kinder waren erst wenige Wochen in Amerika, und der Glanz in ihren Augen war nur eine brüderliche Aufmunterung an einen Mann, in dem sie einen Mitbürger erblickten, der seltsam versonnen inmitten ihrer rhythmischen Begeisterung stand.

„„Es ist ergreifend!““ flüsterte meine Führerin, und ich merkte an ihr einen leichten Widerschein des Glanzes, der von den Kindern ausgegangen war.

Ja, sagte ich, es ist das Ergreifendste, was ich in Amerika gesehen hatte.

Und so bleibt es in mir haften.“

Nachdem ich so weit gelesen hatte, legte ich das Buch von Wells aus der Hand und überließ mich meinen Gedanken. Wir haben beim Eingreifen Amerikas in den Krieg erlebt, daß Abkömmlinge aller Völker Europas hier durchzogen. Unter den Gemeinen und Offizieren, die an unsern Tischen saßen, zählten die mit deutschen Namen, die Becker, die Kind, die Schmit, die Müller, die Hoffmann, die Hundertmark, die Schneider usw., zu Dutzenden. Viele von ihnen hofften, beim Einzug in Deutschland in die Heimat ihres Vaters, ihrer Mutter zu gelangen, sie trugen keinen Haß gegen Deutschland, manche schienen es zu lieben, aber über alles empor, alles mit ihrer Masse und Wucht zudeckend, ragte die Begeisterung für Amerika. Nicht allen ging es gut drüben, aber alle standen restlos im Zauber des Sternenbanners.

So ein viereckiges farbiges Stück Leinwand an einer Stange kann, wie man sieht, patriotische Wunder wirken.

Es gibt auch diesseits des großen Teichs Länder, die heute solche Wunder nötig hätten.

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    Katalognummer BW-AK-009-1831