30. Januar 1921

Eine Dame meiner Bekanntschaft erzählte folgende allerliebste „wahre Geschichte“.

Ihr Sohn Georg hatte zu seinem zwölften Geburtstag eine Flobertflinte bekommen.

Um zu zeigen, daß er sie sich nicht aus purer weltlicher Frivolität gewünscht hatte, wollte er sich damit in der Wirtschaft nützlich machen und die Spatzen abschießen, die im Garten alle Kirschen fraßen.

Als er grade anlegte, kam seine Großmutter und sagte: „Aber Georg, wer wird so grausam sein und das arme Vögelchen totschießen! Es hat vielleicht Junge, die dann elend zugrunde gehen müssen!“

Georg setzte den Hahn in Ruh und wartete, bis die Großmutter nicht mehr da war.

Einige Tage später traf er sie im Garten, wie sie auf den Salatbeeten die Schnecken einsammelte.

„Aber Omama!“ sagte er, „wer wird so grausam sein, das arme Schneckchen zu töten! Es hat vielleicht Junge, die dann elend zugrund gehen müssen!“

Mark Twain betitelt eine seiner Humoresken, eine Parodie auf die damals grassierenden Sherlockholmesiaden «A double-barrelled detective story» - eine doppelläufige Detektivgeschichte.

Obige Geschichte ist mehr als doppelläufig. Inbetracht der Moral, die jeder Geschichte innewohnen muß, ist sie wenigstens ein Revolver, ein Browning, ein Winchester. Sie gehört zu den Geschichten, aus denen man Moral so endlos herausziehen kann, wie ein Zauberkünstler Papierserpentinen aus einem Hut.

Der Fabeldichter La Fontaine, dem die Moralcoda so unendlich melodisch und selbstverständlich aus der Feder floß, hätte der obigen Spatzen- und Schneckengeschichte ganz sicher eine andere Moral abgewonnen wie Gleim, Jung Stilling eine andere, wie Trotzki, Napoleon eine andere, wie Foch.

Aber die Nutzanwendung daraus hätten sie alle gezogen, denn, wie gesagt, sie strotzt von Fabelmoral und man kann dabei nicht anders, als den Finger an die Nase legen und Weisheit von sich geben.

Nur Georg und seine Großmutter hätten wahrscheinlich gesagt, sie dächten sich dabei weiter nichts, als daß es nicht gut ist, wenn die Spatzen unsere Kirschen und die Schnecken unsern Salat fressen.

Womit sie, ohne daran zu denken, unsere Stellung zur Schöpfung in ihren Tiefen gekennzeichnet und ein Welträtsel gelöst hätten.