Original

1. Februar 1921

In unserm hauptstädtischen Gemeinderat hat sich eine Lage herausgestellt, die wirkt, wie ein Witz. Die Partei, die im Schoße der Stadtvertretung die Minderheit bildet, hat das Heft in die Hand bekommen, weil bis jetzt noch kein Schöffenrat ernannt werden konnte. Der diensttuende Bürgermeister und zwei von den vier Schöffen gehören der Minderheit an, die somit im Schöffenkollegium in zwiefacher Beziehung den Ausschlag gibt.

Von rechtswegen sollte das Schöffenkollegium, solange es nicht definitiv ernannt ist, von den fünf rangältesten Stadtverordneten gebildet werden. Aber wenn fünfundzwanzig Stadtverordnete zugleich gewählt werden, ist keiner davon rangälter, als sein Kollege. Bei Zwillingen und Drillingen kann man sagen, wer von ihnen zuerst das Licht der Welt erblickt hat, bei den Erwählten des Volks spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß diejenigen, die am meisten Stimmen bekommen haben, auch zuerst als Sieger begrüßt wurden. Dadurch wird freilich ein gewisser Altersrang bestimmt. Man kann z. B. sagen, daß Herr Philippe vielleicht zwanzig Minuten rangälter ist, als Herr Wehenkel, weil für ihn vielleicht zwanzig Minuten früher das Quorum gezählt war. Aus diesen zwanzig Minuten Vorsprung fließt ihm soviel Erfahrung und Sachkenntnis, daß er dadurch vor Herrn Wehenkel zum Bürgermeisterposten qualifiziert ist. Hätte Frau Thomas die meisten Stimmen bekommen, so hätten wir heute statt eines dtt. Bürgermeisters eine dtt. Bürgermeisterin. Die trilolore Seidenschärpe stände ihr mindestens ebenso schön, wie irgend einem Herrn der Schöpfung.

Man hat über die sonderbare Lage, die sich nach der Bildung dieses Schöffenrates ergibt, viel gelacht und viel diskutiert. Sie ist freilich nicht alltäglich. Der Gemeinderat hat in dieser Vertretung der kommunalen Exekutive kein politisches Gebilde zu sehen, das er, wenn es sich mißliebig macht, übern Haufen werfen kann. Dieser Schöffenrat ist ihm weder durch Parteikonjunktur noch durch Regierungswillkür aufgedrängt, er ist da, gewissermaßen automatisch, und bleibt da, bis das Provisorium aufhört. Und Provisorien haben bekanntlich ein zähes Leben.

Nun wäre, meines sehr unmaßgeblichen und unpolitischen Erachtens, grade jetzt die Gelegenheit zu einem interessanten Experiment gegeben.

Es waren einmal zwei Brüder, die über die Nachlassenschaft ihres Vaters in Streit gerieten. Sie gingen zu einem weisen alten Richter und baten ihn um Rat. Er sagte: Wenn ich Euer gemeinsames Erbe auch noch so gewissenhaft teile und eine Hälfte gegen die andere auch noch so peinlich abwäge, immer wird jeder von Euch zweien überzeugt sein, der Teil, den das Los dem andern zugewiesen hat, sei der wertvollere. Also machen wir es so: Du, Peter, teilst das Vermögen nach bestem Wissen in zwei genau gleiche Teile, und Du, Paul, hast als der erste zu wählen. Dein Bruder wird sich hüten, die eine Hälfte zu bevorzugen, weil Du sie ihm vor der Nase wegwählen könntest.“

Der provisorische Schöffenrat von Luxemburg ist in gewissem Sinn in einer ähnlichen Lage, wie Peter, und der Gemeinderat in derselben Lage, wie Paul. Der Schöffenrat hat die Teile zu bestimmen, das heißt, die Angelegenheiten zur Beschlußfassung vorzulegen, aber er darf nicht wählen, nicht beschließen, er muß alles so besorgen, daß die Mehrheit einverstanden sein kann, sonst wählt und beschließt sie seine Vorschläge unter den Tisch. Daraus könnte, wenn man es recht betrachtet, eine Ära ungetrübter Harmonie entstehen.

Aber ich wette, irgendwo ist in der schönen Rechnung ein Fehler, und mit der Harmonie ist es wiederum Essig.

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    Katalognummer BW-AK-009-1833