Original

3. Februar 1921

Während ich diese Zeilen zu Papier bringe, ist es noch unentschieden, ob der Stadtrat das Faschingstreiben erlauben wird oder nicht. Wenn sie aber erscheinen, dann ist die Entscheidung schon gefallen. Es kann also niemand behaupten, ich hätte den Entschluß des einen oder andern Gemeindevaters, der einen oder andern Gemeindemutter beeinflußt, ich sei mir schuld daran, daß der Fasching erlaubt oder daß er verboten wurde.

Denn die Meinungen gehen scharf auseinander. So leidenschaftlich die einen für den Karneval sind, so heftig sind die andern dagegen. Dazwischen steht die Masse der Gleichgültigen, aber trauet denen nicht. Wo immer einer sagt, es sei ihm egal, da seid verversichert, er hat es fest vor, die drei Nächte zu durchschwärmen.

Soll man dafür oder dagegen sein?

Man darf diese Frage beileibe nicht aus dem Gesichtswinkel der Moral oder der Volkswirtschaft betrachten. Sie hat viel tiefere Zusammenhänge, sie geht auf menschliche Urzustände zurück. Der Fasching ist ein Sicherheitsventil, wie der erlösende Aufschrei eines, der aus bösem Traum erwacht. In dem Moment, wo die Natur aus den Niederungen des Winters wieder dem Sonnenleben, dem Keimen und Sprießen sich zuwendet, wird der Mensch inne, daß Nebel und Kälte, Tod und Langeweile und Dunkelheit nur vorübergehend waren, und er begrüßt die immer noch fernen Gestade des Frühlings mit einem Land! Land! so jauchzend, wie die Mannen des großen Christoph den Erdteil, der hinterher doch nicht nach ihm getauft wurde. Noch ist es nicht die Landung, aber es ist die Sicherheit, daß sie kommen wird. „Es muß doch Frühling werden!“

Darum ist der Fasching wie kein anderes weltliche Fest dasjenige, das wir im innigsten Zusammenhang mit der Natur, auf ihr Anstiften sozusagen, feiern.

Sieben Jahre lang war aus der Krone des Jahres das Juwel Karneval herausgebrochen. Macht Euch klar, was das bedeutet. Wer 1914 schon zwanzig war, wird sein Teil an Faschingsfreuden und Leiden - denn auch Faschingsleiden gibt es - als Erinnerung mit in den finstern Tunnel der Kriegs- und Nachkriegsjahre herübergenommen haben. Aber die Jüngeren und die ganz Jungen, denen ist die Fastnacht nicht mehr als ein Wort. Ein Zehnjähriger frug dieser Tage seinen Vater: „Wat aß dann dat, d’Fuesend? Aß dat, wann d’Leid alleguore geckeg sin?“

Seht Ihr, schon diesen Jungen und Jüngsten wären wir schuldig, daß die Fastnacht wieder einmal brausen dürfte mit vollen Registern, daß die Tollheit uns wieder auf ihre Schwingen nähme und uns über die Vernunft des Alltags drei Tage und drei Nächte lang hinaustrüge und uns dann weich auf den Boden der Wirklichkeit niedersetzte, mit leerem Portefeuille, schwerem Herzen, süßen Erinnerungen und einem heilsamen Katzenjammer. Denn nichts ist heilsamer, als so ein gesunder ausgewachsener Faschingskatzenjammer. Es gibt von der Sorte, die ein ganzes Jahr vorhalten, zuweilen sogar ein oder zwei Leben lang.

Nicht nur den Jungen, auch den Alten wäre die Auferstehung des Karnevals zu gönnen. Habt Ihr gesehen, wie sie in diesen Tagen zusammenhockten und von dazumal erzählten, Tolles und Rührendes? Und dabei an süße Erfüllungen und herbe Enttäuschungen zurückdachten- diese Enttäuschungen, über die man sich aus Verzweiflung einen Mordsrausch antrinkt und die sich dann allmählich zu wehmütig süßen Erinnerungen einwecken. Sie wissen noch haarklein, wie es im alten Cercle war, wo sie die hohen Herren „rosen“ machten und ihnen die Champagnerkelche austranken, wie sie nach drei durchschwiemelten Nächten frisch und munter ins Kontor kamen, - und die Abenteuer, die sie bestanden, galante und andere, und wie es allmählich weniger gemütlich aber desto teurer wurde.

Sie alle sind seit der letzten Fastnacht sieben - sieben! Jahre älter geworden. Böse sieben! Und sie möchten endlich auch wieder sieben Jahre, zehn, zwanzig Jahre jünger werden.

Wie gesagt, ich weiß nicht, wie die Entscheidung gefallen sein wird, wenn Du, lieber Leser und liebe Leserin, diese Zeilen zu Gesicht bekommst.

Aber wie sie auch gefallen sei, ich übernehme dafür keine Verantwortung, und mich brauchst du nicht sch. H. zu schimpfen, weder wenn Dein Domino noch ein Jahr weiter im Schrank von den Motten zernagt wird, noch wenn Dein Mann erst am Aschermittwoch nachmittag nachhaus kommt und eine Geschäftsreise vorschützt.

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    Katalognummer BW-AK-009-1835