Als ich vor Jahren zuerst Gelegenheit hatte, mich am luxemburger Faschingstreiben zu beteiligen, war nachts vorher grade ein Mann von der Passerelle hinuntergestürzt worden und tot liegen geblieben.
Trotzdem taten wir uns nachmittags zu einem regelrechten Blechmusikkorps zusammen - wir waren alles frühere Koryphäen der Studentenmusik - und füllten die Straßen der Stadt bis über die Dachfirste mit den Akkorden des damals sehr beliebten Landjägermarsches. Auf einmal stand vor uns ein zorniges altes Mütterchen, das einen Regenschirm schwang und schrie: „Ihr Schw ...., Ihr habt sicher auch den Mann von der Brücke hinunter geworfen!“
Diese Geschichte fiel mir nach langen Jahren auf einmal wieder ein, als am Mittwoch abend im Gemeinderat von Luxemburg Frau Thomas dem Kapitalismus und der Bourgeois-Gesellschaft vorwarf, sie seien schuld daran, daß dieser Tage ein junges Mädchen sein uneheliches Kind ausgesetzt hatte.
Zwischen einer Blechmusik, die am Karnevalssonntag den Landjägermarsch spielt und einem Mann, der in der Nacht vorher von einer Brücke hinuntergestürzt wurde, besteht offenbar genau dasselbe Verhältnis, wie zwischen der kapitalistischen Weltordnung und einer Kindesaussetzung. Der Unterschied liegt nur darin, daß im ersten Fall ein altes Mütterchen und im zweiten im Gegenteil Frau Thomas uns den Text liest.
Frau Thomas wird, wenn sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf hat gehen lassen, sicher zur Einsicht gelangt sein, daß sie diesmal zum wenigsten über das Ziel hinausgeschossen hat. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß der Kindsvater ein waschechter Sozialist Moskauer Observanz ist, den seine Prinzipien durchaus nicht verhindert haben, seinen Schatz im Unglück sitzen zu lassen. Dafür sprechen mindestens ebensoviel Wahrscheinlichkeiten, wie für einen kapitalistisch betonten Verführer.
Wenn es genügte, daß ein Bursch auf die rote Fahne eingeschworen ist, damit die Mädels unbedingtes Zutrauen in seine Treue und seine Vatergefühle haben könnten, so wäre für diese armen Dinger vieles vereinfacht. Aber der prinzipienstärkste Genosse kann sich in diesem Punkt der Bourgeoisund Kapitalistenmoral nicht entschlagen. Und darum bin ich trotz der gegenteiligen Versicherung der Frau Thomas fest überzeugt, daß Mädchenverführung ohne Heiratsabsicht u. mit nachfolgender Kindesaussetzung vielmehr allgemein menschliche, als Angelegenheiten einer speziellen wirtschaftlichen Weltanschauung und Gesellschaftsordnung sind.
Soviel ich weiß, hat es bisher grade in den Reihen der Bourgeois die leidenschaftlichsten Verdammer der Pharisäer gegeben, die jedes gefallene Mädchen aus der Gesellschaft ausstoßen wollen und pfui der Schande! über jedes Verhältnis rufen, zu dem weder der Herr Bürgermeister noch der Herr Pfarrer ja und Amen gesagt haben. Ich brauche nur an Alexandre Dümas Sohn zu erinnern, der meines Wissens kein Sozialist war und dennoch in seinen Werken mit verschwenderischem Aufwand an Geist und Begeisterung für die Sache der Gefallenen eintrat.
Aber es gehört bekanntlich zu den größten moralischen - manchmal unmoralischen - Genugtuungen des Menschen, daß er für ein Übel jemand in erreichbarer Nähe verantwortlich und verächtlich machen kann. Zu den gröbsten Buchstaben der Sozialtstentaktik gehört es von jeher, sich immer abseits zu stellen und alles, was Unwünschenswertes passiert, kaltlächelnd dem Bourgeois anzukreiden.