Original

6. Februar 1921

Liebe Leserin oder lieber Leser, warst Du nicht bis gestern mittag im Besitz eines hübschen Taschenfederhalters aus weißem Metall - vielleicht Silber? - mit goldner Spitze? Gestern morgen hattest Du ihn noch. Und als Du später ihn hervorziehen wolltest, war er verschwunden.

So geht es im Leben. Tausend Dinge verschwinden aus Deinem Umkreis, wa sie Dir gehörten, wo ihr Gebrauch oder ihr Anblick Dir Freude machte. Ein Buch, ein Bild, eine Pfeife, eine Zigarrentasche, ein Taschenspiegelchen, allerhand Kleinigkeiten: Sie waren immer da und auf einmal sind sie fort. Das heißt, nicht auf einmal. Sie empfehlen sich auf englisch. Du merkst es nicht, daß sie sich aus Deinem Dasein hinausstehlen - oder gestohlen werden. Vielleicht hast Du sie einmal verschenkt und darauf vergessen. Und eines Tages fällt Dir zufällig so ein Gegenstand wieder ein. Da und da hat er doch gelegen! Aber fort ist er, Du kehrst alle Schubladen um und findest ihn nicht. Du kommst Dir heimtückisch bestohlen vor. Grade diese Kleinigkeit, findest Du, war Dir ans Herz gewachsen. Sie war ein Stück Deiner Jugend, jedenfalls Deiner Vergangenheit, die im Vergleich zu heute immer noch Jugend ist. Und es war noch „Vorkriegsqualität“. So was wird heute gar nicht mehr gemacht. Ich erinnere mich, daß sich mir wochenlang, so oft ich daran dachte, das Herz im Leib herumdrehte, weil ein schöner alter italienischer Dolch, den ich auf dem Rastro in Madrid für ein Spottgeld von einem Trödler gekauft hatte, von meinem Schreibtisch verschwunden war. Jedenfalls gestohlen. Mein Verdacht ging zornig die phantastischsten Wege. Heute weiß ich ungefähr sicher, wer ihn hat, und darüber habe ich mich merkwürdigerweise beruhigt. Es ist, wie wenn von einem Verschollenen bekannt wird, daß er da und da begraben liegt.

Auch Menschen verschwinden auf dieselbe verstohlene Weise hinter unserm Horizont. Eines Tages sind sie nicht im Stammlokal, niemand merkt es, wenn er nicht zum engen Bekanntenkreis gehört. Nach Jahren hört man den Namen und sagt: „Ach ja, der Müller, wo ist denn der auf einmal hingekommen!“

Der schmerzlichste Verlust aber ist der Verlust der Illusionen und Ideale, die den Lebensweg entlang uns verlassen, manchmal mit leidvollem Abschied, manchmal sanft und schmerzlos, mit einem wehmütig heitern Lächeln und einer Segensgebärde. Hast Du die Kraft der Entsagung, so entlässest du mählich alle diese unsichtbaren Begleiter und gehst als sanfter Zyniker durch den Rest Deines Lebens. Kannst Du das ewige Hoffen nicht lassen, so packst Du Deine Illusionen und Ideale fest an einem Gewandzipfel und ziehst sie mit fort und sprichst mit ihnen und bildest Dir ein, daß sie Dir antworten. Bis Du merkst, daß es nur der Widerhall Deiner eigenen Rede ist.

Und nun, liebe Leserin oder lieber Leser, sage ich Dir, daß Du Dich über Deinen verlorenen Federhalter nicht zu grämen brauchst. Er liegt in der Schalterhalle der Hauptpost, auf dem mittleren Schreibpult rechts vom Eingang.

Dort lag er wenigstens noch gestern mittag um halb zwölf, wo ich froh war, ihn gebrauchen zu können. Hoffentlich hat ihn niemand mit fortgenommen, in der Meinung, nur den Staat zu bestehlen.

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    Katalognummer BW-AK-009-1838