Frau Thomas hat mir die Ehre einer Antwort in der „Sozialen Republik“ erwiesen.
Die Sache, um die es sich handelt, ist ernst genug, als daß wenigstens kein Mißverständnis darin obwalten dürfte.
Frau Thomas gab und gibt der kapitalistischen Weltordnung die Schuld an der Kindesaussetzung, und sie hilft die sozialistische Weltordnung anstreben, weil diese nicht den einzelnen Menschen, sondern der Allgemeinheit die Sorge für Mutter und Kind zur Pflicht macht und weil in ihr „das bürgerliche Strafgesetzbuch“ dem Verführer nicht mehr gestattet, „in der Menschenmenge“ zu verschwinden.
Ich war dagegen der Meinung, daß Mädchenverführung und Kindesaussetzung in ihren Ursachen und Folgen weder mit der kapitalistischen noch mit der sozialistischen Weltordnung zusammenhängen; daß nichts den kapitalistischen Staat und seine Bürger hindert, für das uneheliche Kind und seine verlassene Mutter in der Weise zu sorgen, daß beide sich als nützliche Glieder der Gesellschaft einfügen, und daß umgekehrt die Prinzipien des Sozialismus dem Mann, der ein Mädchen verführt hat, keinen sittlichen Halt geben, wenn er Lust hat, Mutter und Kind sich selbst zu überlassen.
In diesem Sinn also handelt es sich hier weder um eine politische noch wirtschaftliche, sondern eine rein menschliche Angelegenheit.
Außer dem kapitalistischen Staat mißt Frau Thomas dem „bürgerlichen Strafgesetzbuch“ einen Teil der Schuld bei. Man kennt hier einen «code pénal», der Strafgesetzbuch, und einen «code civil», der bürgerliches Gesetzbuch heißt. Ein „bürgerliches Strafgesetzbuch“ gibt es meines Wissens nicht. Oder doch nur, wenn man bürgerlich von bourgeois, statt von Bürger herleiten will. Der «code civil», den wir mit „bürgerliches Gesetzbuch“ übertragen, hieß so, weil «civil» den Unterschied von militaire u. ecclésiastique markieren sollte. Wie der Artikel 340, auf den Frau Thomas anspielt und der dem natürlichen Vater die Drückebergerei erleichtert und geradezu suggeriert, in dies bürgerliche Gesetzbuch hineingekommen ist, das hat mit kapitalistisch und sozialistisch nichts zu tun. Damals waren Welt und Staat und öffentliches Leben auf Waffenmacht und Männertaten gestellt. Napoleons Verhältnis zu den Frauen war so, daß er sie als Soldatenmütter und Königsmütter höher schätzte, als in jeder andern Eigenschaft, und dieses Verhältnis vertrug sich sehr wohl mit dem ominösen ersten Satz des Art. 340 des bürgerlichen Gesetzbuches (nicht Strafgesetzbuches).
Wäre es also am Ende nicht etwa so, daß hier ein Gegensatz vorläge nicht zwischen sozialistisch und kapitalistisch, sondern zwischen Männer- und Frauenregiment? Da können wir uns vielleicht einigen, Frau Thomas. Das bürgerliche Gesetzbuch ist ausschließlich von Männern gemacht, wie die meisten Gesetze in der Welt, seit die Zeit der Mütter, die Epoche der Gynokratie, aufgehört hat. Heute beginnt die Frau, im Staat den Platz zu erobern, der ihr gebührt und auf dem sie den Hebel zu einer ebenmäßigeren Verteilung von Recht und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ansetzen kann. Wir haben hierzuland gesehen, daß die verbissensten Feinde des Sozialismus, die Klerikalen, zu den überzeugtesten Anhängern des Frauenstimmrechts gehörten. Dieses hat also wiederum nichts spezifisch sozialistisches an sich. Und doch ist das Frauenstimmrecht, das sich also vorzüglich in die kapitalistische Weltordnung einfügt, das einzige Mittel, die Rechte der beiden Geschlechter in billiger Weise auszugleichen, die Verführte und Verlassene gegen den Verführer und Drückeberger zu schützen.
Damit sind wir weit ab von Karl Marx und dem sozialistischen Zukunftsstaat. Aber vor allen Dingen muß nun die Frau ihre Pflicht gegen die Frau erfüllen, nachdem es der Mann so lange nicht getan hat.
Und da fürchte ich - ich las soeben wieder die Brunnenszene im „Faust“ nach -, daß Frau Thomas nicht nur bei den Männern, sondern viel mehr vielleicht bei den Frauen auf alte Vorurteile stoßen und daß sie dagegen bei den Frauen der kapitalistischen Weltordnung mindestens ebenso viel praktische Hilfsbereitschaft finden wird, wie in ihrem eigenen Lager.