Original

20. Februar 1921

Im „Temps“ berichtet J. B. über einen Vortrag, in dem der Philosoph Bergson ein Buch von OssipLouvié «Les Graphomanes» analysiert und sich über diese entsetzliche Manie, die Schreibsucht, verbreitet.

Niemand weiß besser, als ein Zeitungsredakteur, was es mit der Schreibsucht auf sich hat. Jede Briefverteilung bringt einen Haufen ungebetene Beiträge, von denen jeder Herrn Bergson Stoff zu den interessantesten Kommentaren gäbe. Und wir wären so froh, nicht schreiben zu müssen, daß wir nicht begreifen, wie einer sich zum schreiben drängt, wenn er nicht muß. Es muß doch etwas Verlockendes darum sein, seine Gedanken schwarz auf weiß zu sehen, wie sie einem deutlich und scharf gegenüber stehen und wie das ganze Volk die Augen darauf gerichtet hält. Denn jeder, der sich gedruckt sieht, denkt nicht anders, als daß sich keine zwei begegnen, ohne von seinem Artikel oder seinem Buch oder seinen Gedichten zu reden. Es ist eine geistige Vaterschaft, die ihren Zauber genau so, vielleicht noch stärker übt, als die leibliche. Die Kinder Deiner Feder wachsen Dir jedensakls nicht über den Kopf. Aber es können sehr wohl daraus Früchtchen werden, von denen Du wünschtest, daß sie nie geboren wären, ungeratene Rangen, die den Leuten die Fenster einwerfen und Dich als zivilhaftbar vor Gericht bringen.

Ich werde mich hüten, mich jetzt auf eine Charakteranalyse der freiwilligen Zeitungskorrespondenten einzulassen. Denn entweder würden sich dadurch alle getroffen fühlen und dann kämen wir um die wertvolle Mitarbeit vernünftiger Freunde und Leser. oder niemand würde sich getroffen fühlen, und dann wäre es gehupft wie gesprungen.

Am furchtbarsten wütet die Graphomanie oder Schreibsucht da, wo es sich um das eigentliche Schrifttum, die Literatur, handelt, und wo die Grenze zwischen Talent und Talentlosigkeit verläuft. Es gibt Schriftsteller, die für das Schreiben kein oder wenig Interesse aber viel Talent haben. Diese schreiben aus geistiger und meist auch materieller Notwendigkeit - wenn sie nicht grade zu faul dazu sind. Andere haben kein Talent, aber viel Interesse. Das sind die Gefährlichen. Sie gleichen dem alten Engländer. der sein Vermögen darum gegeben hätte, mit Phileas Fogg die Reise um die Welt machen zu können. Er konnte es nicht, weil er gelähmt war. Die Graphomanen aber schreiben, ohne Talent zu haben. Ein junger Mann entwickelte mir eines Tages einen wunderbaren Plan zu einem Lustspiel, das wir in Kompanie schreiben sollten. Ich bekam heraus, daß er das Stück kurz vorher in Paris gehört hatte. Das hatte seine Schaffenslust derart angeregt, daß er das bereits Geborene noch einmal aus sich heraus gebären wollte. Es ist bei diesen Leuten eine Art sekundärer Empfängnis. Es ist sehr interessant, aber sehr überflüssig. Am stärksten grassiert die Erscheinung, wo es sich um Bühnenliteratur handelt, weil über die Bühne der kürzeste Weg zur Selbstanschauung durch die eigenen Werke und zum schriftstellerischen Ruhme führt. Aber auch in der Lyrik gibt es solche Wiedergebärer massenhaft. Der Wiederklang eines schönen Gedichtes in ihrem Gemüt erregt in ihnen nicht nur den Genuß an der Schönheit des Gedichtes, er befruchtet sie aus zweiter Hand, sie fühlen es in sich, daß sie das auch können, und sie dichten im selben Stil drauf los, unerschöpflich, weil unschöpferisch. Man kann in ihren Werken die Befruchtungsepochen nachweisen wie geologische Schichten.

In dem Artikel im „Temps“ ist Rede von der Schreibsucht, die schon bei kleinen Kindern auftritt. Als ich vorhin in die Zeitung kam, las ich auf einer Mauer folgende Feststellung, unbeholfen in großen Buchstaben mit Kreide hingemalt: „Der Kies ist ein - - -“ Was der Kies ist, das war wieder ausgerieben. Entweder war es dem kleinen Schreiber leid geworden, oder der Kies selbst hatte eingegriffen.

Ich schlage vor, die Stadtverwaltung läßt irgendwo eine große Mauerfläche herrichten, auf die jeder Bürger mit Kreide anschreiben darf, was in seinen Augen der jeweilige Kies ist. Bei der herrfchenden Papiernot wäre damit den Zeitungen merklich geholfen. Und den Graphomanen auch.

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    Katalognummer BW-AK-009-1848