Original

9. März 1921

Ich erinnere mich aus meinen Kinderjahren einer Kalendererzählung, die den Titel führte: „Gottes Stimme“. Sie lautete ungefähr wie folgt:

Theodor war der Sohn armer, aber braver Eltern. Er war von ihnen in der Furcht Gottes und Reinheit der Sitten erzogen, er ging sleißig zur Kirche und zu den Sakramenten und war für alle Jünglinge des Dorses ein. Muster an Tugend und Eingezogenheit.

Eines Tages siel er schlechten Kameraden in die Hände und sank immer tiefer, so weit, daß er eines Nachts in die Fleischkammer des Nachbarn eindringen wollte, um einen Schinken zu stehlen, den er mit seinen Kumpanen in nächtlichem Gelage bei Kartenspiel und in Gesellschaft lasterhafter Frauenzimmer verzehren wollte.

Es schlug Mitternacht, als Theodor die Leiter emporstieg, die ihn immer tiefer in den Abgrund führen sollte. Es war in einer schwülen Sommernacht, ein Gewitter zog von Südwesten herauf. Theodor stieg durchs Fenster, schlich, ortskundig, wie er war, zu der Räucherkammer, öffnete leise die Tür und streckte beim Schein seiner Blendlaterne die Hand nach dem dicksten der Hinterschinken aus, die der Nachbar dort für sich und die Seinen aufbewahrte. Theodor bedachte nicht das Sündhafte seines Unterfangens. Er war sich in seinem Sündenrausch nicht bewußt. daß dieser Schinken, der bestimmt war, von einer tugendhaften Familie im trauten Kreise nach rechtschaffener Arbeit verzehrt zu werden, nunmehr durch seine Schuld lasterhaften Zwecken dienen sollte.

Aber sein Schutzengel, der vor Trauer schon lange sein Antlitz verhüllt hatte, wachte über den Irregeleiteten.

Theodor hatte schon den Schinken gefaßt und wollte ihn grade abhängen, da - eine blendende Helle und ein Schlag, der das Gebäude in seinen Grundvesten erschütterte. Der Blitz hatte zwar nicht in das Haus selbst, aber dicht daneben eingeschlagen, grade genug, damit Theodor darin den Finger Gottes erkennen sollte.

Das tat er denn auch. Er bekreuzigte sich instinkt- mäßig und auf seine Lippen trat unwillkürlich ein Gebet, das ihn seine Mutter gelehrt hatte.

Er ging tief erschüttert nachhaus, legte sich ins Veit und war für immer durch die Gnade Gottes gerettet.

Es war mir gegönnt, ein Gegenstück zu dieser erbaulichen Geschichte vor nicht gar langer Zeit zu erleben.

Unser Dackel Tapsy trieb sich herum, schnüffelte, trug die Schnauze hoch, fuchtelte nervös mit der nicht ganz rassereinen Rute - er witterte ein Stück Braten, das irgendwo auf einem Tischchen stand, wo sonst kein Braten zu stehen pflegt. Wahrscheinlich hatte das Mädchen den Teller wegen einer andern Bosorgung im Vorbeigehen abgestellt. Daneben stand ihr Wecker. Tapsy würde in Küche und Eßzimmer nichts anrühren, aber wenn er sonstwo etwas Genießbares findet, macht er sich kein Gewissen daraus, es sich ohne weiteres einzuverleiben.

Also machte er bei dem Tischchen hoch, legte erst die Vorderpfoten auf den Rand, wie ein Redner die Hände auf die Brüstung der Tribüne und hängte die Zunge heraus. Dann legte er den Kopf auf die Seite, daß ihm das Mundwasser heraustropfte und suchte das Fleisch zu fassen.

Im selben Augenblick rasselte der Wecker los. Entsetzt schnellte sich Tapsy von dem Tischchen ab, zog die Nute ein und schoß mit fliegendem Behang zu seinem Korb, wo er sich so tief wie möglich in die Kissen barg und mit Angstaugen die Umgebung beobachtete. Erst als das Nasseln aufhörte, beruhigte er sich einigermaßen.

Er hat seither Höllenrespekt vor allen Tellern mit Fleisch, die auf Tischen stehen und traut sich über den Schauplatz seines mißlungenen Beutezugs immer nur im Galopp und auf dem größtmöglichen Umweg.

Wenn Dackel Kalendergeschichten schrieben, möchte ich wissen, was darin aus diesem Abenteuer Tapsys geworden wäre.

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    Katalognummer BW-AK-009-1862