Original

10. März 1921

Es ist nicht nur das Geschlecht, das die Menschheit zweiteilt. Es gibt ein Besonderes, das die Menschen von einander scheidet, so scharf, daß dieser Unterschied so wenig zu überbrücken ist, wie der zwischen Mann und Frau.

Dies Besondere ist das Verantwortlichkeitsgefühl. Und ob es Wesensveranlagung oder Einprägung durch die Daseinsbedingungen ist, durch das Verantwortlichkeitsgefühl schlichten sich zunächst Mann und Frau auseinander so sicher, wie durch die anatomischphysiologischen Unterschiede der Geschlechter.

So leid es mir tut, meine Damen, aber Sie haben durch die Bank nicht das Verantwortlichkeitsgesühl, das ich meine. Was Sie als solches empfinden, ist persönlich umschrieben, hat nicht die Richtung aufs Ganze. Hat es sie aber, nun, so siehen Sie in den Reihen der großen Kämpferinnen, der Johanna von Arc u. der Rosa Luxemburg, deren Frauheit stählern umpanzert ist. Die Frau, wie sie die Dichter und Psychologen kennen, hat dem Ganzen gegenüber kein Verantwortlichkeitsgefühl. Ihre Liebe und ihr Haß empfangen grade daraus eine Kraft, die alles überwindet. Denn das Verantwortlichkeitsgefühl ist ein Ballast. Das Gefühlsleben der Frau rechnet nicht mit den Folgen, sobald sich ihr die Hauptsache erfüllt. „Wenn ich Dich nur habe!“ Ein Beispiel aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ein Beamter fühlt sich in der Beförderung zurückgesetzt. Er hat die nötigen Schritte getan, er kennt seine Vorgesetzten als rücksichtslose Buchstabenmenschen, die sich ungerochen nicht auf die Zehen treten lassen. Er fürchtet, durch Drängeln seinen Fall zu verschlechtern und schließlich mit den Seinen auf dem Trocknen zu sitzen. Es ist nicht Angst, es ist richtiges Verantwortlichkeitsgefühl. Seine Frau macht sich nichts draus, sie fällt dem Bürochef und dem Minister mit der Türe ins Haus, sagt ihnen vor den Kopf, daß es eine Schande ist, diesen ebenso begabten wie bescheidenen Mann auf dem Stengel vertrocknen zu lassen und geht heim mit der Genugtuung, es ihnen einmal gründlich gesagt zu haben. Geht die Sache schief so nörgelt und wühlt sie weiter, aus Rechthaberei und vermeintlichem Gerechtigkeitsgefühl. Wie daheim die Karre läuft, kümmert sie wenig. Sie ist freilich auch imstand, sich krumm zu legen und als Haushälterin Wunder zu verrichten, aber durch Rücksicht auf das Los der Ihrigen sich den Mund verbieten lassen, das gibt’s nicht.

Dies Beispiel genüge. Jeder Leser wird andere aus seinem Liebes- und sonstigen Leben anreihen können.

Dieses geradezu paradiesische Befreitsein vom Zwang der Verantwortlichkeit befähigt die Frauen zu einer Lebensauffassung und zu Taten, die dem schwerblütigen Mann einfach. versagt sind. Ihn erwartet nach dem Liebestaumel der zur Karikatur gesteigerte Ernst des Lebens. Nicht memento mori, sondern: Memento vivere!

Der Strich: Verantwortlichkeitsgefühl geht aber nicht nur zwischen Mann und Weib entlang, er geht durch die ganze Menschheit und scheidet sie inbetracht der Verantwortung in Bewußte und Unbewußte. Öder um es deutlich zu sagen: In Unternehmertum und Proletariat.

Wenn ein Unternehmer dauernd in seiner Person und seinen Nachkommen zugrunde geht, so ist der Mangel an jenem Verantwortungsbewußtsein daran schuld. Und aus dem Proletariat steigt nie einer ins Unternehmertum hinauf, wenn er nicht zu jenen Bewußten gehört. Im volkstümlichen Sprachgebrauch nennt man die Sache Charakter, aber glauben Sie nur, es ist einzig und allein das Verantwortungsgesühl, das den Unternehmer macht. Intelligenz. Fachkenntnis, Fleiß, alles das allein tut es nicht, wenn die ausschlag- und richtunggebende Eigenschaft fehlt. Nur sie macht den wesentlichen Unterschied zwischen Unternehmertum und Proletariat aus.

Alle großen Führer der Menschheit waren Naturen, deren Verantwortungssinn auf das Ganze gerichtet war. Und sie blieben Führer in dem Maße, wie ihr Verhalten durch ihr Verantwortungsgesühl bestimmt blieb.

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    Katalognummer BW-AK-009-1863