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12. März 1921

Es gibt Länder, Kreise, Berufe, in denen man sich alte Männer nicht vorstellen kann. Die Begriffe Paris und alter Herr z. B. vertragen sich sehr gut mit einander, in der französischen Belletristik ist der alte Eaga sogar eine stehende Figur; Wiesbaden ohne pensionierte Generäle mit weißen Gottvaterbärten war seinerzeit nicht denkbar - wie es heute ist, weiß ich freilich nicht -, ein alter Schwede gehört zu den Alltäglichkeiten, den Holländer gar können wir uns nicht anders als alt vorstellen. Aber Sie brauchen nur zu sagen: Ein alter Amerikaner, - so empfinden Sie sosort, daß es das nicht gibt. Der Amerikaner ist jung oder er ist nicht. Oder haben Sie schon einen alten, einen wirklich alten Amerikaner gesehen? Einen, der sich seinen Jahren ergeben hatte und sich nicht lieber täglich den Schädel kahl scheren ließ und eine braune Perücke aufsetzte, als daß er offen die Etikette seines Alters zur Schau getragen hätte? Ist es uns nicht, als ob sich drüben die alten Männer vertröchen, wie das Wild im Wald, wenn seine Widerstandskraft nachläßt? Einen Rehbock-Mummelgreis, einen Hasenveteranen, einen Fuchsgroßvater kennt der Jäger nicht. Ein Mops wird zehn, fünfzehn Jahre alt und stirbt an Herzverfettung, davor sind der Fuchs und der Hase und der Rehbock sicher. Wir kommen uns vor, wie die Möpse neben den Amerikanern, die aus unserm Gesichtskreis verschwinden, wenn sie nicht mehr das Aussehen der Jugend haben.

In den meisten Berufen gibt es alte Leute. Der gute alte Leutnant Weydert war sicher schon über das kanonische Alter, als er zum Hauptmann avancierte, in unserer Post zeigte man noch vor kurzem Kommis, die schon Großvater waren, alte Minister gehörten lange zum nationalen Inventar, alte Schürzenjäger sind sprichwörtlich, alte Förster sind eine stehende Figur, selbst der Sport kann mit den ehrwürdigsten Exemplaren von Angelfischern aufwarten. Aber einen Beruf gibt es, von dem niemand weiß, was mit seinen Angehörigen geschieht, wenn sie die Höhe des Lebens überstiegen haben. Das sind die Artisten.

Man kommt abends aus dem Pole Nord und hat Wunder der Akrobatik, reizende Tänzerinnen, verblüffende Equilibristen gesehen, die besten von denen, die, wie Alexandre Dumas sagt, «ont de l’esprit avec leur corps». Wer heute auf dem Brettl bestehen will, muß ein Maximum bieten. Aber es kommen die Jahre, in denen das Herz seine Spannkraft verliert, die Schärfe der Sinne sich abstumpft, die Reaktion der Muskeln träger wird. Dann verrät den Artisten sein Instrument, das sein wundervoll trainierter Körper war. Was wird aus den alternden Artisten? Was wird aus den alten Monden? Der liebe Herrgott, meint Heine, schlägt sie in Stücke und macht neue Sterne daraus. Aber wenn so ein Brettlstern zum alten Mond geworden ist, dann ist es mit ihm vorbei. Alle Akrobaten brechen doch wohl nicht vor ihrem vierzigsten Jahr das Genick, alle Tänzerinnen und Sängerinnen und Seilkünstlerinnen können nicht, wie Sarah Bernhardt bis zu siebzig Jahren junge Mädchen bleiben. Also was wird aus ihnen?

Ein alter Artist antwortete mir vor Jahren auf diese Frage: Wir werden die Väter und Mütter der Jungen, die nach uns kommen. Aber damit ist die Frage nur halb beantwortet. Was wird aus den andern?

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    Katalognummer BW-AK-009-1865