Original

18. März 1921

Ich blieb vor einer Schreibwarenhandlung stehen und ärgerte mich. Zwei Flaschen standen da, die in jeder Linie Weinflaschen glichen. Die eine hatte die Form einer Rheinwein-, die andere die Form einer Bordeauxflasche. Und was enthielten sie? Tintel Ganz gewöhnliche schwarze Schreibtinte!

Ist das nicht eine Irresührung der Instinkte, der Phantasie? Früher hatten die Tintenfabrikanten Scham genug, ihr Produkt in Krügen zu vertreiben, in denen niemand etwas Trinkbares vermuten konnte. Höchstens Hunyadi Janos Jetzt füllen sie ihre Kultursauce in Flaschen, deren Anblick den schlummernden Leu Durst zu wecken geeignet ist. So wie aber der Leu merkt, daß es nur Tinte ist, zieht er beschämt den Schwanz ein und kuscht.

Ich hatte kaum die erste Reflexbewegung überwunden, als auf meine Zunge ein süßsaurer Alaungeschmack trat. Er war unangenehm und auch nicht. Alaun gehört an und für sich nicht zu den gesuchtesten Leckerbissen, aber diese Geschmackserinnerung stimmte seltsam mit der frühlingshellen Umgebung, dem quicken, jungen Leben auf der Straße, den weißen Wolken im blauen Märzhimmel. Es war eine Kindheitserinnerung. Es war jener charakteristische Geschmack, den kein Mensch vergißt, der je mit der Zunge einen Tintenfleck von seinem Schreibheft aufgeleckt hat. Werden die Tintenflecken heute nicht mehr aufgeleckt? Das sollte mich wundern. Ich kannte damals in der Schule ein Mädchen, - es hieß Marie und kann mir noch heute bestätigen, daß ich die Wahrheit sage, - das hatte jahraus jahrein vom Fleckenlecken eine Zunge so schwarzblau wie eine Heidelbeertorte. Ich sehe sie noch heute, wie sie, die Zungenspitze im linken Mundwinkel, mit geneigtem Kopf da sitzt und ihre Aufgabe schreibt, wie sie auf einmal die Stirn runzelt, weil beim ersten Strich nach einer neuen „Zapp“ der ganze Inhalt der Feder sich als glänzendes Halbkügelchen auf das Papier entleert hat, wie sie zweihändig das Heft faßt und es mit himmelwärts gerichteten Augen über ihr flinkes Zünglein hinführt.

Sogar aus Tintenflaschen, merke ich, kann man liebe Erinnerungen ziehen.

Weil wir grade dabei sind: Weiß einer, wo die Redensart herstammt: Der hat Tinte gesoffen? Man sagt das von jemand, der besonders tief ins Glas geguckt hat. Es kann sich kaum um Schreibtinte handeln, denn erstens wird man davon nicht betrunken u. zweitens ist sie als Getränk wenig geschätzt. Soll hier nicht der vino tinto gemeint sein?

Jetzt wäre vielleicht der Augenblick, ein altes Scherzwort aus den Tagen des Bankiers Max Rudolph schmerzlichen Andenkens aufzufrischen. Dieser junge Mann, der über einige tadellose Anzüge verfügte, hatte irgendwo in der Großstraße ein Bankund Wechfelgeschäst aufgemacht und sofort starken Zulauf gefunden. Mehrere Damen waren bereit, für seine Bonität die Hand ins Feuer zu legen. Einmal hatte er Rio Tinto-Papiere für einen unglaublichen Betrag untergebracht, und als es nachher schief ging, waren grausame Menschen, die Essig in die Wunden gossen und sagten: Jetzt sitzt Ihr in der Tinto, aber es ist nicht zum rio. Als dann eines Tages auf einen dieser düstern Witzbolde geschossen wurde, schlief der Kalauer ein. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich damit bei dem einen oder andern eine wunde Stelle berührt haben sollte.

Um auf die Tinte zurückzukommen: Sie spielt in den Erinnerungen eines jeden Kulturmenschen eine hervorragende Rolle. Sobald einer mit Tinte schreiben durfte, standen ihm alle Wege offen. Jeder von uns hat die Periode durchgemacht, in der es sich zu entscheiden gilt, ob man seine Gedanken in schwarger oder in blauer Tinte ausströmen lassen soll. Ich schwöre nicht höher, als auf Alizarin-Tinte. Sie schimmert erst smaragdgrün und dunkelt allmählich nach, bis sie ganz schwarz ist. Ich machte oft einen dicken Strich auss Papier, nur um diesen allmählichen Prozeß des Nachdunkelns zu verfolgen, wie man eine Lebenskundgebung verfolgt.

Liebesbriefe aber darf man als Jüngling nie anders als mit der blauen „Tinte für die elegante Welt“ schreiben. Allermindestens! Wer es richtig machen will, ritzt sich den Arm und schreibt mit seinem Blut.

Blut ist die Tinte, mit der die Weltgefchichte geschrieben wird. Aber die die Tinte liefern, sind selten die, die schreiben.

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    Katalognummer BW-AK-009-1870