Original

6. April 1921

Wer aus der Fremde heimkommt, erlebt allerhand Überraschungen. Die Kirschen blühen, die Kastanienknospen sind aufgegangen, das Briesporto ist auf fünf Sous gestiegen, und man blamiert sich ein paar Tage lang bei seinen Freunden und Bekannten, an die man Briese mit dem guten alten Dreisousporto srankiert und die dann Strafporto zahlen müssen.

Die größte Überraschung für die Heimkehrenden war dieser Tage, daß die Straßen der Hauptstadt regelrecht berieselt wurden.

Es hatre seit der Piffgeschichte duftigen Andenkens kaum eine Frage mehr soviel Staub aufgewirbelt, wie die Staubfrage, Bei der einen rümpfte die Bürgerschaft über die Fässer die Nase, bei der andern begrüßte sie sie mit befreitem Aufatmen. In beiden Fällen war eine starke politische Beimischung festzustellen. Der neue Herr Bürgermeister hat offenbar Witterung für Dinge, die einen politischen Keim bergen. Der Straßenstaub gehörte dazu. Indem er ihn niederschlug, brachte er die Hausfrauen auf seine Seite, und ohne die Hausfrauen kann heute kein Bürgermeister in Luxemburg mehr regieren.

Die Frage verträgt indes ein weiteres Ausholen.

Mit dem Straßensprengen ist es auf die Dauer nicht getan. Eigentlich wird durch das Berieseln der Straßen der Staub nur vorübergehend unaggressiv gemacht. Er wird für ein paar Stunden in Dreck verwandelt. Er kann nicht mehr fliegen. Es ist vom Dreck eine glückliche Eigenschaft, daß er nicht fliegen kann. Aber er erwartet seine Opfer sozusagen stehenden Fußes.

Wir befinden uns in Luxemburg vor der ewigen Alternative: Staub oder Dreck. Regnet es, so waten wir im Dreck, regnet es nicht, so wandeln wir in Staubwolken. Man hat die Wahl, welchen von beiden Zuständen man vorzieht. In meteorologisch normalen Zeiten wechselt der eine mit dem andern ziemlich regelmäßig ab. Das erzeugt eine gewisse Wurschtigkeit. Diesmal aber hatte der Staub so lange die Herrschaft, daß wir uns beinahe nach dem Dreck sehnen.

An ein Drittes scheint niemand zu denken. Und doch soll es Städte geben, in denen die Staubplage unbekannt ist. Ich glaube gesehen zu haben, daß durch lange Straßenzüge ein Auto am andern raste, ohne daß dahinter auch nur ein Dunst von Staubwölkchen zu sehen war.

Wir werden der doppelten Plage: Staub oder Dreck, nicht dadurch Herr, daß wir oder das Wetter den einen abwechselnd in den andern verwandeln. Eine Stadt, die diesen Namen verdient, darf ihre verkehrreichsten Straßen nicht mit einem Belag versehen, der unter Fuß und Rad ebenso sicher zu Staub und Dreck wird, wie das Korn unter dem Mühlstein zu Mehl. Was hilft es, daß die Großstraße gepflastert ist, wenn alle Wagen und Fußgänger von den Boulevards her an Sohlen und Reifen den Schmutz hereintragen, wenn der Wind den Staub kilometerweit hereinweht, wenn keine methodische Straßensäuberung eingeführt wird?

Wir dürsen das Wort: Luxemburg Touristenstadt nicht mehr aussprechen, solange unsere schönsten Häuser und Villen an Sträßen stehen, die sich vor einer gewöhnlichen Bauerndorfchaussee schämen müssen.

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    Katalognummer BW-AK-009-1879