Original

9. April 1921

Vor einiger Zeit stand vorübergehend im Schaufenster der photographischen Anstalt Anen, Beaumontstraße, ein Gruppenbild, auf dem 13 Männer und ein Regenschirm zu sehen waren. Die 13 Männer trugen jeder einen Zylinderhut und sahen feierlüglich aus. Dem Regenschirm war es egal.

Diese 13 Männer zusammen mit dem Regenschirm bildeten bis zum 1. April 1921 die luxemburgische Regierung.

Da das Bild im gepflasterten Hinterhof des Regierungsgebäudes aufgenommen ist, wurde es rasch populär unter dem Namen: „Die Regierung auf dem Pflaster.“

Sein Ruf drang bald in die Weite. Aus Preis hat eine Hutfabrik mehrere Exemplare bestellt. Diese Fabrik sammelt Material zu einem umfassenden Werk: Le Gibus à travers les siècles. Nicht nur durch die verschiedenen Formen der dreizehn Zylinder, auch durch die höchst individuelle Art der einzelnen Regierungsmitglieder, die Dunstkiepe zu tragen, wurde die Aufmerksamkeit der Pariser Firma auf dies Bild gelenkt. Das erwähnte Werk soll ein eigenes Kapitel enthalten, das von der Kunst handelt, den Charakter eines Mannes aus dem Sitz seines Zylinderbutes zu erraten.

Das Kabinett Reuter dürfte in der luxemburgischen Geschichte das erste sein, das auf photographischem Wege für seine Verewigung gesorgt hat. Es hat sich damit als fort- und rückschrittlich zugleich bewiesen. Unter der Regierung Eyschen ist es sicher niemals einem Minister eingefallen, von sich und seinen Kollegen ein Gruppenbild herstellen zu lassen. Das war eine Lücke in unserm öffentlichen Leben. Das Ministerium Reuter hat sie ausgesüllt. Darin liegt das Fortschrittliche dieses Regierungsaktes, und neben dem Referendum und der Rettung der Dynastie wird die photographische Festhaltung dieses Ministeriums im Bild als eine seiner Großtaten in der Geschichte fortleben. Rückschrittlich war diese Großtat, insofern sich heute wirklich große Männer nicht mehr photographieren, sondern nur noch filmen lassen. Was wüßten wir von Charly Claplin, wenn wir nur eine tote Photograrhie von ihm besäßen? Was sagt uns sein Kopf ohne seine Beinstellung? In der Beinstellung, im Gang verrät sich der Charakter zu einem sehr starken Prozentsatz, zumal, wenn man ihn mit dem Sitz des Zylinders kombiniert.

Wie anders, um wieviel lebendiger und anschaulicher existierten Cäsar, Alexander, Hannibal, Napaleon, Goethe in unserer Vorstellung, wenn wir sie auf dem Lichtschirm vorbeischreiten sähen! Dreizehn Männer im Zylinder, die regungslos auf dem Pflaster stehen, das gibt ein totes Bild, bei dem man sich nichts denken kann. Setzen Sie aber die 26 Beine der Regierung in Bewegung: Sofort strahlt das Bild Leben, Charakter, Anschaulichkeit aus. Der eine schreitet keck fürbaß, Schultern hoch, Bauch herein, Brust heraus, der andere setzt behutsam Schritt vor Schritt und rundet den Rücken, damit alle Stürme bequem darüber hinweg können. Mit jeder Bewegung spräche eine solche Regierung zum Volk. Jedes Jahr am Großberzegin-Geburtstag würde beim Te Deum in der Kathodrale ein Schirm gespannt und die Getreuen zögen im Bilde vorüber und das Volk würde andächtig mit Fingern auf sie zeigen und flüstern: Die waren’s!

Ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, wer von den sechs Ministern die Anregung zu dieser Kulturtat gegeben hat. Bei Hochzeiten und Pompiersvereinen ist es selbstverständlich, daß sie „sich abziehen“ lassen. Es wäre interessant, zu wissen, in welchem Ministergemüt zuerst das Bedürfnis nach dieser Schönheitskundgebung aufkeimte.

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    Katalognummer BW-AK-009-1882