Nascitur poeta, sagen sie. Das heißt, es muß einer als Dichter auf die Welt kommen, nachher ist es zu spät.
Das gilt noch viel absoluter vom Tenor. Es gibt Auchdichter, aber es gibt keine Auchtenöre. Man singt das hohe C oder man singt es nicht. Sonette kann jeder machen, gute oder schlechte, aber die Stretta hinausschmettern, daß dem Publikum süße Schauer über die Haut rieseln, das kann nur der gottbegnadete Mann, dessen Stimmbänder und Lungen zusammen das Phänomen Tenor bilden.
Ein Tenor wird in der Hütte oder im Palast geboren mehr noch in der Hütte, als im Palast. Es verlautet in der Geschichte nichts von einem König oder Kaiser, der eine schöne Tenorstimme gehabt hätte. Dagegen weiß man, daß viele berühmten Tenöre aus bescheidenen Verhältnissen stammten. Es hieß eine Zeitlang, der Kutscherberuf sei eine besonders ergiebige Tenorquelle. Einer der berühmtesten deutschen Bühnentenore, Wachtel, der bis in sein Greisenalter den Postillon von Longjumeau sang, wie keiner seither, war seines Zeichens Kutscher, als er entdeckt wurde. Ravelli, der am Tenorhimmel lange ein Stern erster Größe war, hatte früher die Kellnerserviette geschwungen. Es gibt keinen Beruf, aus dem nicht eines dieser Stimmphänomene entstammen könnte.
Der Zufall brachte mich dieser Tage mit dem Tenor Blaimont zusammen, der zurzeit im Pôle Nord auftritt und jedesmal mit Applaus empfangen wird, noch bevor er den Mund auftut.
Man sieht ihm an, daß er ein einfacher, ungezierter Mensch ist, der sich gibt, wie er ist, und nur durch das wirken will, was er bietet. Ein gutmütiges Gesicht, sonst was man im Volk einen stattlichen jungen Mann nennt. Wenn er beim Singen beteuernd die Hand aufs Herz legt, merkt man gleich: Da ist was dran!
Ich hätte gern gewußt, was er getan hatte, ehe er Tenor geworden war, und frug deshalb, ob er schon lang singe. Ach nein, sagte er. Seit ich nicht mehr Polizist bin. Und erzählte mir weiter, wie er erst richtig konservatorisch ausgebildet und dann, weil er nicht gleich Verwendung fand, Polizist in Namür geworden war. Nach dem Krieg fand es sich dann, daß die Sänger im Preis stiegen und er für Frau und Kinder mehr mit seiner Stimme als seinem Säbel und Notizbuch verdienen konnte.
Ich meinte, die Bösewichte von Namür hätten nichts dagegen gehabt, daß ein Mann mit solchen Pratzen nicht mehr hinter ihnen her war.
Ach nein, sagte er mit einem gutmütigen Grübchenlächeln, ich war kein schlimmer, sie sagten alle, ich sei zu gut.
Und nun steht er also droben im Frack und schmettert seine Weisen heraus, daß einem das Zwerchfell davon zittert, und er bedauert nur, daß er nicht richtig loslegen kann - sagt er - weil der Saal nicht groß genug sei. Und es fehlt ihm nur der Mäcen, der ihm das Geld gibt für seine Ausbildung im Bühnenspiel. Dann würde er dem Herrn Caruso schon zeigen, was so ein kleiner Belgier fertig bringt.
Ich rate nun unsern Herren Polizeikommissaren, ihre Mannen bei Herrn Professor Gustav Simon auf einen etwaigen Tenor untersuchen zu lassen. Wenn wirklich einer dabei wäre, wäre es jammerschade, daß er zeitlebens nichts anderes damit anfangen dürste, als jede Nacht „Feierabend!“ zu verkünden.