Kaum vier, fünf Wochen trennen uns von den aufgeregten Märztagen, in denen die Dinge im Industriebezirk wie auf des Messers Schneide standen. Ein Zufallsdruck nach links, und wer weiß, wie das Nad weiter gelaufen wäre. Und schon gewinnen die Ereignisse, durch die kurze Entfernung hindurch betrachtet ein ganz, anderes Aussehen. Eine Sache, die vor Todesdrohung, gezücktem Messer, Kolbenstößen und Bajonettstichen ganz blutig aussah, führt zu einem glatten Freispruch. Die unheilschwangeren Vokabeln, wie Streikposten, Verräter, Weiber, die zu Hyänen werden usw., sind abgeschwollen, ausgeblasen, haben anscheinend nur noch historische Bedeutung. Es ist, als habe das Pulverfaß, auf dem wir damals saßen, nur Kamillentee enthalten. Wenn die aufgeregte Menge, die sich damals mit wutverzerrten Gesichtern, drohend geschwungenen Stöcken, saftigen Verbalinjurien den Arbeitswilligen entgegenstemmte, als Angeklagtengruppe vor Gericht erscheint, sind es gesittet aussehende Leute im Sonntagsanzug. Die Männer haben sich die Haare frisch schneiden lassen, manche sind gar amerikanisch im Nacken geschoren, die Frauen, meist junge, vergnügte Dinger, haben ihr Feiertagsgewand mit dem besten Hut angelegt, und alle sind es natürlich nicht gewesen. Der unparteiisch wohlwollende Ausdruck im Gesicht des Herrn Präsidenten und das Interesse, das die Richter der Sache entgegenbringen, ermutigt alle, ihr Herz auszuschütten. Sie tun es oft nicht ohne Humor und ein strafendes Pst! der Gendarmen muß die Heiterkeit im Saal bändigen. Man kann sich schwer vorstellen, wie diese wackeren Luxemburger beiderlei Geschlechts den Sansculetten und Petroleusen blutrünstigen Andenkens damals Punkte herausgegeben haben sollen.
Und die Freisprüche fallen auf die Besorgnis der Beschuldigten wie Maienregen auf durstigen Boden.
Die Gendarmen und Soldaten aber sehen es anders. Es kommt ihnen kurios vor, daß Dinge, die damals jedermann so furchtbar ernst nahm, jetzt auf einmal so harmlose Gesichter bekommen. Sie erinnern sich an die Stimmung, in der sie damals zur Erfüllung ihrer Pflicht auszogen. Mehr als einmal mußten sie sich sagen, daß sie nur durch Haares Breite vom Allerschlimmsten getrennt waren. Sie hatten das Bewußtsein, daß sie ihre Haut zu Markt trugen. Und jetzt glauben sie wahrzunehmen, daß davon wenig Aufhebens gemacht wird. Sie gelangen zur Auffassung, daß Streikvergehen einigermaßen Fischen gleichen, die frisch und knusprig gegessen sein wollen. Später werden sie faul und fallen auseinander.
Und hinter all diesen: den Richtern, Gendarmen, Soldaten, Zeugen und Angeklagten sieht man die Unsichtbaren, die Drahtzieher, die Anstifter, die Brunnenvergifter, die nächtlichen Unkrautsäer, die ewigen Menschenfeinde, die sich Heilandsendung einbilden und dem Grundsatz huldigen: Weit davon ist gut vorm Schuß.