„O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“
Ich kann mir nicht helfen, die Weise klingt mir seit Sonntag aus allen Prozessionsmärschen und allen Muttergottesliedern. Wenn ich die Kinder sehe, die von weit her durch den Aprilmorgen gefahren oder gewallt sind und die jetzt in den Stadtstraßen überwältigt herumgehen, sehnsüchtige Erwartung im Blick. Die Sohnsucht nach dem Wunder.
Sie sagen, es geschehen keine Wunder mehr. Aber für das Kind ist die Welt mit jedem neuen Tag voll neuer Wunder. Ich sehe sie an den Läden stehen, sehe sie von der Plattform eines Trambahnwagens triumphierend in das Gedränge der Fußgänger schauen, sich mit aufgerissenen Augen über die Brustwehr der Neuen Brücke hängen, der grade vorbeirasselnden neuen Autospritze nachstarren. Jede Minute führt ihnen auf dem Film des Tages ein Wunder vor.
Dem Kind ist das Wunder Wahrheit, die Wirklichkeit Lüge. Darum heißt es, daß Kinder, Narren und Berauschte die Wahrheit sagen. Sie steigern die Verneinung Wirklichkeit ins zeugende Licht des Wunders hinauf und lassen das Wunderbare in sich zur Wahrheit werden.
Im Zusammenhang mit Heiligenverehrung ist das Wunder meist pathologisch, oft unappetitlich. Der Wunderbetrieb in Lourdes ist bekanntlich direkt unästhetisch. In der Wallfahrt nach Kevelaar geht von wächsernen Händen und Füßen die Rede, Echternach mit dem hl. Willibrordus weckt die Vorstellung von Epileptikern und Veitstänzern, die Trösterin der Betrübten in Luxemburg wird auch durch die Bank für hausbackene Anliegen in Anspruch genommen.
Dagegen kenne ich zwei Wunder, auf denen die Poesie wie Maiensonne liegt. Es ist das Rosenwunder der hl. Elisabeth und es ist das Marienwunder des armen Geigerleins von Gemünd. Wenn es darauf ankäme, würde ich lieber glauben, daß sich die Rosen in der Schürze der heiligen Landgräfin von Thüringen in Rosen verwandelt haben, als daß in Lourdes eine gichtbrüchige Betschwester plötzlich zu tanzen angefangen hätte.
Und erst das Geigerlein von Gemünd! Wenn Sie es wissen wollen: Ich habe ihn immer für einen ehrlichen Kerl gehalten. Ich kann mich lebhaft in seinen Fall versetzen. Er war den ganzen Tag mit seiner Fiedel herumgezogen und die Leute hatten ihn von ihren Schwellen gewiesen. Da wanderte er weiter über die Landstraße, und die Muttergottes stand am Weg und lächelte ihn gütig an aus braunen Augen. Und da kniete er vor sie hin und nahm seine Geige. an die Backe und spielte und spielte. Und sagte ihr sein Leid und seine Liebe, wie ein Kind, wie ein Narr, wie ein Betrunkener. Und es war die Wahrheit. Er spielte zu ihren Füßen, die goldne Schühlein trugen, er spielte zu ihrem goldbraunen Haar und ihrem gütigen Mund und ihren weichen Armen, er spielte und spielte, bis das Wunder geschah und sie ihm von ihrem rechten Fuß das goldne Schühlein zuwarf. Und als sie ihn in der Stadt als Dieb hängen wollten, bat er, daß sie ihn wieder vor das Bild Unserer Lieben Frauen führten und ihn die Fiedel streichen ließen. Da warf ihm die Gottesmutter auch ihr zweites goldnes Schühlein zu.
Und er war glücklich, denn er war in seinem Herzen ein Kind. Und das Wunderbare war ihm immer die Wahrheit.