Original

30. April 1921

Die Trierer haben ihren „Du’mstahn“ - was dahinter liegt, ist der Dom.

Wir haben unsere Kammertreppe - was dahinter liegt, ist die Kammer.

Ohne daß die meisten unter uns davon eine Ahnung haben, ist die Kammertreppe eine der größten Sehenswürdigkeiten Luxemburgs. Es ist endlich an der Zeit, daß auf ihre historische Bedeutung hingewiesen wird. Sie ist mindestens so merkwürdig, wie in Prag auf dem Hradschin das Burgfenster, aus dem am 23. Mai 1618 die Herren Martinetz und Slawata mit dem Ratsschreiber Fabricius in den Schloßgraben gestürzt wurden und den berühmten Fenstersturz von Prag stifteten.

Treppen sind an und für sich merkwürdig. Sie sind eine tückische Auflösung einer Steilheit in Flächen, stufenweise Entmannung der Steig- und Fallkraft einer schiefen Ebene, Schwungbrecher im Dienst menschlicher Bequemlichkeit. Wie schauerlich prächtig donnerte z. B. früher der Bach von Mörsdorf durch seine Schlucht herunter, Mauern und Bäume jauchzend mit sich fortreißend. Und heute hat die Bauverwaltung seine Kraft gebrochen, seine Schlucht in eine Treppe verwandelt, von der jede Stufe ein Schlagbaum gegen seinen Ungestüm ist.

Es gibt Treppen, die hinauf-, und Treppen, die hinabführen, wie es Menschen gibt, die die Treppe hinab-, und andere, die die Treppe hinauffallen. Merkwürdig: Jede Treppe muß unbedingt ebensooft hinaufwie hinabführen oder umgekehrt. Und doch wird niemand von einer Speichertreppe hinab und von einer Kellertreppe hinauf sagen.

Eine Treppe gibt es, die zugleich hinauf- und hinunterführt: die Treppe zum Schafott.

Schade, daß Treppen nicht ihre Memoiren schreiben können. Ich möchte die Memoiren unserer Kammertreppe lesen.

Sie ist eine Doppeltreppe. Man kann sie von rechts und von links besteigen, wie man eine bessere Mundharmonika von beiden Seiten beblasen kann. Nur bessere Treppen besitzen diese Doppelseitigkeit. Unsere Kammertreppe ist die beste, die wir haben, und die Besten des Landes steigen sie hinauf und hinunter. Es sei mir erlaubt, ohne irgend welche Beziehung herstellen zu wollen, an den Witz zu erinnern, den unser alter Professor Neumann jedesmal erzählte, wenn das Kapitel von den Homonymen drankam. Ein französischer Abgeordneter soll nämlich eines Tages die Treppe zur Rednertribüne in der Kammer mit einem Brunnen verglichen haben: „Un sot (seau) monte, l’autre descend.“

Es gibt Treppen, die berühmter sind als unsere Kammertreppe. Zum Beispiel die Treppe der Madeleine in Paris, die Treppe zum Kapitol in Rom oder die Scala santa ebendaselbst. Außerdem noch unzählige andere, darunter die Hintertreppe, über die schon so viele Romane geschrieben wurden und die angeblich auch bei unserm Kammergebäude und sonstwo vorhanden sein soll, ohne daß man sie bis jetzt zu Gesicht bekommen konnte.

Bleiben wir einstweilen bei der Vorderkammertreppe oder Kammervordertreppe.

Sie liegt dort im Sonnenschein und träumt. Rosen knospen davor, Kinder spielen Ball auf den Stufen, und treiben sie es gar zu lärmvoll, so erscheint oben in der Tür der Hüter des Hauses der Nation, Herr Schammel, und scheucht sie als gutmütiger Bärbeißer fort, wohlwissend, daß sie wiederkommen, sobald er den Rücken gedreht hat. Stullenpapier, das futternde Pilger in den Frühlingswind gestreut haben, raschelt leise auf den Stufen und ist ein Sinnbild dafür, wie leicht hierzulande auch der kleinste Mann zu den höchsten Instanzen vorzudringen vermag.

Das Bild ändert sich. Das Idyll wird zum Tornado. Die Treppe knirscht unter schwergenagelten Arbeiterschuhen, Arbeiterhände kneten ihr Geländer, heisere, heiße Worte fliegen von ihr in die Menge und Tausende gieren, sie zu stürmen, über sie in das Haus zu dringen, von dem, wie sie sich einbilden, ihnen das Heil kommen kann und muß.

Und die Treppe duckt sich geduldig und denkt wie der alte Kammerpedell Huberty: Steigt mir den Buckel hinauf oder steigt mir den Buckel hinunter, mir ist es egal. Alles Butik!

TAGS
    Katalognummer BW-AK-009-1900