Die Steuerung versagte.
Es ist eine bequeme und geläufige Formel. Und dahinter verbergen sich Blut und Schrecken.
Wenn in der Zeitung steht: Die Steuerung versagte, dann liegt totficher irgendwo jemand mit zerborstenem Schädel oder eingedrücktem Brustkasten auf der Bahre oder im Sterben. Und irgendwo im Feld kehrt ein totes Automobil die Räder gen Himmel.
Es ist merkwürdig, daß wir die Schrecken des Todes immer mit der Kilometerzahl multiplizieren. Wenn jemand im gewöhnlichen Fußgängertempo verunglückt, regen wir uns darüber nicht mehr auf, als wenn er an Lungenentzündung gestorben wäre. Rennt er im Hundertfünszigkilometertempo ins Verderben, so packt es uns mit dem Entsetzen, das Tragik auslöst. Es ist, als wäre die Schnelligkeit etwas, was wir der Natur nicht abstehlen dürfen, so wenig wie Prometheus den Göttern das Feuer stehlen durfte. Und als stände auf dem Diebstahl die Todesstrafe.
Die Gottheit sagte: Ich stelle Euch in die Zeit und Ihr dürft sie erleben. Das ist ein Geschenk, das ich Euch mache. Ich stelle Euch in den Raum, aber den Raum zu erleben, das ist Eure Sache. Seht zu, wie Ihr es anstellt. Jedem von Euch gebe ich dasselbe Stück Zeit zu erleben, das neben ihm jeder andere erlebt. Wer mehr Raum erleben will, als ihm von mir zugeteilt ist und er mit seinen Füßen durchmessen kann, hat sich selber darnach umzutun.
Und seit es Menschen gibt, gieren sie nach dem Raum und träumen Ikarus-Träume. Sie machten sich die Tiere, den Wind, den Dampf dienstbar, um mehr Raum zu erleben, und die Riesenkräfte, die seit Urzeiten in den Schoß der Erde gebannt waren, lösten sie in zornige Explosionen auf, die ihre Wagen mit sinnbetäubender Schnelligkeit durch den Raum treiben. La boulimie de l’espace.
Zweie wollen in einem Tag einen halben Weltteil erleben? Sie wollen dem Expreß zum Trotz von Basel nach Brüssel rasen und dort lächelnd den eindampfenden Zug empfangen. Vielleicht ist eine Geschichte mit einer schönen Frau dabei. Um den Ruhm, abends beim Glas Champagner in Brüssel lässig, mit einer Bewegung des kleinen Fingers nach der Zigarettenasche, ins Gespräch zu werfen: Wir sind heute morgen mit der Maschine in Basel weggefahren, waren um 4 Uhr hier, zwei Stunden vor dem Expreß - um dieses prickelnden Gefühls willen, um sagen zu können: Wir erleben in einer Stunde dreißigmal mehr Raum, als alle andern, die zu Fuß gehen, setzten sich die zwei der Rache der Götter aus.
In Basel stieg der Tod mit ihnen hinten auf.
Und bei Steinfort „versagte die Steuerung“.
Wenn jedesmal, wo das in der Zeitung stand, die Steuerung versagt hätte, so wären längst alle Maschinen-Ingenieure an der Arbeit, eine neue, zuverlässigere Art der Steuerung zu erfinden.
Aber es ist nicht die Steuerung aus Rädern und Stangen von Stahl, die versagt. Es ist die viel feinere Steuerung im Gehirn des Fahrers. Da lauert das Fatum. Und sowie im Willen und Bewußtsein des Mannes am Steuer die kleinste Lücke entsteht, schiebt es eine Hemmung ein und das Unglück geschieht. Ist es zu verwundern, wenn in der Spannung, die seit dem frühen Morgen andauerte, auf einmal eine Lockerung entstand? Daß die in Zaum und Richtung gehaltene Kraft sich befreit fühlte und einen Seitensprung tat, wie ein Tier, wenn die Leine nachgibt?
Die Steuerung versagt, und zwei Unglückliche büßen ihre Gier nach Raum mit dem Tod.
Die Steuerung versagt, und Völker verbluten an ihrer Gier nach Raum.