Original

15. Mai 1921

Wo Sie an Pfingsten hinfahren sollen, Gnädigste?

Ich weiß, Sie haben alle Reisemöglichkeiten durchgedacht. Sie dachten an die Mosel, an die Sauer ans Ösling, ans Müllertal, an Brüssel, Paris, den Rhein, die Loire, die Semois, kurzum, an alle die hübschen Eckchen, wo Sie schon einmal froh waren oder noch einmal froh werden möchten.

Aber Sie schaudern vor der Fahrt in überfüllten Zügen, wo alle Gesetze der Urbanität aufgehoben sind, wo Ihnen jeder Mitreisende kaltlächelnd auf die Füßchen tritt, ohne Pardon zu sagen, wo Sie stundenlang im Gang stehen müssen, zwischen Handkoffern und Hutschachteln, wo es keinem der Herren drinnen einsällt, aufzustehen und Ihnen Platz zu machen, wo Ihr Herr Gemahl beständig aussieht, als wollte er den nächsten, der noch einsteigt, auf schwere Wassen fordern und Ihnen an allem die Schuld geben.

Und in diesem Zwiespalt Ihrer Pfingstgefühle fragen Sie mich, was Sie die Feiertage über ansangen sollen.

Bleiben Sie zuhaus, Gnädigste.

Wer kein Automobil hat, bleibt an Pfingsten zuhaus.

Benutzen Sie die Tage, Ihre Vaterstadt zu entdecken.

Sie kennen sie?

Gestatten Sie, Gnädigste, daß ich daran gweifle. Sie kennen sie vielleicht einigermaßen von innen. Aber lernen Sie sie einmal sozusagen von außen kennen. Tun Sie, als ob Sie hier nicht zuhause wären. Packen Sie mit Ihrem Herrn Gemahl den schönen neuen Mädele-Koffer. Packen Sie Ihre duftigsten Frühlingstoiletten, Ihre seidensten Strümpfe, Ihre elegantesten Schuhe hinein, dazu das WörlBändchen über Luxemburg. Bestellen Sie Sich ein Auto und fahren Sie im Reiseanzug bei Beyens vor. Lassen Sie Sich ein schönes Zimmer geben und mischen Sie Sich unter die Fremden. Sie werden sehen, wie das Sie auf einmal von allem Alltäglichen und Vertrauten abrückt. Sie sitzen im Salon und lesen die „Luxemburger Zeitung“ genau so, als ob sie Ihnen nach Ostende nachgeschickt worden wäre. Sie grüßen Sich mit Bekannten, als seien sie Ihnen im Vestibül des Palace in Brüssel begegnet. Nach Tisch fragen Sie den Ober, was es in Luxemburg Sehenswertes gibt. Er wird Ihnen Adressen angeben, von denen Sie keine Ahnung haben, und auch Ihr Herr Gemahl wird tun, als ob er zum ersten Mal davon hörte. Sie nehmen Ihren Wörl zur Hand und staunen, was alles die Mauern Luxemburgs beherbergen. Sie kommen auf diese Weise auch vielleicht einmal in den Stadtpark und werden ein- übers andremal ausrufen: Nein, wie entzückend, das wußte ich ja gar nicht, daß wir einen so schönen Park mit so herrlichen Blumen und so wundervollen Ausblicken haben! Sie sehen Sich vielleicht einmal die Silberkammer im Schloß an. Früher konnte man das. Stellen Sich in die Reihe, wenn das Schloßtor offen ist und die Herrschaften vielleicht ausfahren. Sie fragen die Umstehenden, was das für ein Gebäude ist, und wer in dem Wagen sitzt, den die kleinen Mädchen so begeistert anviven. Sie gebärden Sich in allen Stücken, als wären Sie von weit hergekommen. Sie kommen vielleicht auch einmal an Ihrem Haus vorüber und denken: Ei, da drin muß es sich hübsch wohnen lassen!“

Und sind die Feiertage um, so bezahlen Sie im Hotel Ihre Rechnung und fahren wieder nachhaus. Sie haben Sich nicht geärgert, sind nicht abgehetzt, nicht enttäuscht, hatten stille und genußreiche Feiertage und wissen von Ihrer Heimatstadt soviel, wie Herr Wörl.

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    Katalognummer BW-AK-009-1912