Original

19. Mai 1921

Ein Freund schreibt mir aus Berlin:

„Wenn mein Onkel H., der Zuckerbäcker aus der Großstraße, wiederkäme, würde er nicht mehr sagen: Wa mei Mo schwätze konnt, da sie e Grechen Gröchen. Wenigstens nicht hier in Berlin, wo neuerdings auf Grund der bekannten Einsuhrklausel des Versckiller Vertrages „Wormeldinger“ und „Remicher“ in den Warenhänsern u. gewissen Massengarküchen zu haben ist. Die Notwendigkeit des Verkehrs brachte mich in einen solchen „Küchenpalast“ und der Freund, der mich an seinen Stammtisch gelotst hatte, bestellte Wormeldinger, ohne zu wissen, was er mir damit tat. Gutes oder Schlechtes? Es war, um einer Geiß (soll heißen: um leiner Geiß) ins Ohr zu schütten: gezuckert bis dort hinaus, gespritzt. geduftet! Auf mein Pfui Teufell fuhr die kleine Runde zusammen und ließ sich belehren, daß es gegen den Trunk, den ich sozusagen an der Quelle getrunken hatte, es sind keine vier Wochen her, die reinste Eulenmilch sei. Genug! Wir gingen zu etwas anderem über: Rheinwein, Edenkobener: der war nur gesüßt, aber als Nahewein an dem dunkelnden Schimmer von vornherein, auf der Zunge zweifelsfrei zu erkennen. - Heute lud mich ein Strohwitwer ins Wirtshaus ein: er setzte mir Bernkastler mit irgend einem Zunamen vor; die drei Eigenschaften waren zum Entsetzen deutlich, mein Freund schrie laut auf und bat um Entschuldigung, wobei er treffend an das Bild von dem Gaul erinnerte, der mit allen solchen Tieren eigenen Fehlern behaftet war. - So trinkt man hier, wenn man nicht etwa aus einem Lande oder Ländchen mit starler Valuta kommt. Man trank hier vor dem Krieg an den geläufigsten Stätten immer schlecht, konnte aber in angemessene Häuser ausweichen, die Kenner einem angaben. Jetzt ist das aus, und wer herkommt und nicht in die Hunderte für eine Flasche geben will oder kann, der trinke Bier. - Ein Glück für den guten Luxemburger Namen, daß die Leute hier nichts von Wormeldingen und Remich wissen!“

Dir geschieht recht! Muß Dich der Teufel reiten, daß Du ausgerechnet in Berlin Wein trinken willst, und dazu noch Wormelbinger! Wußtest Du nicht, daß in Berlin nur in Animierkneipen Wein getrunken wird - oder wenigstens bezahlt - und daß das Kraut, das anderswo dort verzapft wird, nicht viel besser ist? Doch, ab und zu bekam man vor dem Krieg eine anständige Flasche Rotspon, und auch jetzt trinken wohl Berliner Schieber noch die Reste der Vorräte, die vor dem Zusammenbruch aus französischen und belgischen Kellern in die Umgebung des Brandenburger Tores gelangten. Aber für Naturwein hat Berlin sonst kein Verständnis, wenn es nicht grade französischer Sekt ist.

Indes, Du brauchst nicht bis Berlin zu gehen. Dies Unverständnis sindest Du schon in den weitesten Kreisen unserer Heimat und speziell unserer Vaterstadt Luxemburg. Zur Zeit Deines Onkels Zuckerbäcker waren die Leute, die Grächen mit Genuß und Verständnis tranken, im Vergleich zu heute, so selten, wie z. B. die Künstler und Dichter. Wer damals Grächen trank, Bilder malte oder Verse dichtete, tat es aus Naturnotwendigkeit, weil er nicht anders konnte. Heute will jeder Schuster und Schneider Grächen trinken, Gedichte machen und Bilder malen. Das heißt dann Demokratie. Grächen, Gedichte und Bilder sind dann aber auch darnach.

Wenn es nach mir ginge, würde jeder Wein immer nur da getrunken, wo er wächst. Dann käme es nicht vor, daß schlechte Menschen aus dieser Gottesgabe eine Sache des Geschäfts und der Chemie machen.

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    Katalognummer BW-AK-009-1914