Es gibt Tote, die sich zu einem Nekrolog nicht eignen.
Wahrscheinlich, weil man das Empfinden hat, sie seien, obzwar gestorben, dennoch nicht tot.
Henri Vannerus ist einer von diesen lebendigen Toten. Wenn einer gegen ihn im üblichen Nachrufstil die Feder zückt, so steht er ihn aus dem Jenseits mild spöttisch an und sagt: Voyons, mon ami! - mit seiner merkwürdigen Stimme, die klar und bedeckt, gelassen und energisch zugleich klingt.
Er ist heute nicht mehr tot, als er es vor 10 Tagen, 10 Monaten, 10 Jahren war. Er stand, soweit wir an ihn zurückdenken, als Weiser außerhalb, oberhalb des Lebens. Wenn man ihm auf einem seiner einsamen Spaziergänge begegnete, war es, als ob man etwa Goethe oder Sokrates begegnet wäre. Er war ein lebendiger Mensch, in dem eine tote Zeit in milder Schönheit aufgebahrt lag.
Er war der verkörperte Adel der Gesinnung. Adel nicht mit Wappen und Hakennase, Pergament, Pedigree, Feierlichkeit und allerhand Attributen, Adel schlechthin. Denn er war auch die verkörperte Schlichtheit. Nie war unter uns einer so ohne Furcht und zumal ohne Tadel, wie er, und dabei so ohne alle Inszenierung und Aufmachung. Er war schlicht und wahr, wie das Wasser, wie das Licht.
Das Gute war ihm das Natürliche, das Selbstverständliche. Man kann sich ihn unmöglich in die Lage denken, daß er etwas bewußt Schlechtes getan hätte. Die edelsten Menschen vermögen unter Umständen eine Schurkerei zu begehen, sei es auch nur der ewigen Seligkeit zulieb. Henri Vannerus kannte nichts, was ihm eines Abweichens von der Bahn seiner Überzeugung wert gewesen wäre, nicht einmal die ewige Seligkeit. Er hatte für Abseitiges einfach kein Organ.
Er schenkte aus seinem Geist, seiner Güte und seiner Klugheit heraus Zeit seines Lebens den Menschen Gerechtigkeit. Sie war ihm das Primäre, das geschriebene Recht die Form, die sich dem immanenten Recht anpaßte. Er sah durch die Form hindurch die Urgesetze und half ihnen zur Geltung. Darum sagten sie, er sei unser klarster Kopf.
Er war ein Mensch, der Liebe anzog, wie der Magnet das Eisen. Man liebte ihn wegen des Unabsichtlichen in seinem Wesen. Er war in allem Gentleman und rauchte zuhaus eine irdene Pfeife, er war das Muster eines Rechtsgelehrten und Staatsmannes und spielte Klavier wie ein Künstler. Wo ist heute - außer etwa Herrn Philippe - unter unsern Politikern, Verwaltungsleuten, Juristen, die im Kampf des öffentlichen Lebens stehen, noch einer, der Klavier spielt und sich für etwas anderes, als Prozesse und Wahlen interessiert?
Sein Inneres war nicht ein Kontor und Geschästslokal, es war ein vornehm möbliertes Patrizierhaus, wo trockne und blühende Wissenschaft, Kunst und exquisites Menschtum harmonisch zusammenwohnten.
Er verstand vielleicht seine Zeit nicht mehr. Sie ihn sicher auch nicht. Es ist kein Zweifel, wer dabei am meisten verloren hat.