Original

29. Mai 1921

Kurz vor Mittag begegnen mir Frauen und Mädchen, die plaudernd in Rudeln an irgend eine Arbeitsstelle vor das Weichbild hinaus streben.

Sie tragen Körbe, die mit Tüchern zugedeckt sind und in denen sie ihren Männern oder Vätern das Mittagessen bringen. Keine soll sehen, was die andere im Korb hat. Denn alle fürchten die Mißgunst oder den Spott. Selten isolieren sich zwei und vertrauen einander: Heute habe ich „unserem“ - sie sagen „unserem“, nicht meinem - das und das gekocht.“ Aber das sind immer nur die, die wirklich kochen können. Viele können es nicht.

Als ich jung war, gab es die „Z’äeßendöppen“. Es war ein Zwillingstopf aus Blech mit einem Henkel, der über die Zwillinge hinübergriff. Ein Zwilling enthielt die Suppe, der andere das Essen. „Zopp an z’äeßen“ war das normale Menü.

Aus frühen Kinderjahren erinnere ich mich eines Tabletts aus lackiertem Blech, das auf einer Schrankborte stand, wo es sich dekorativ zu wirken bemühte. Man sah darauf im Bild einen Mann des Volkes, der auf einem Schubkarren saß und aus einem Topf, den er auf den Knieen hielt, seine Mittagssuppe löffelte. Ihm gegenüber saßen Weib und Kind. Es war ein herzerfreuendes Familienidyll. Alle drei waren stillvergnügt: Die Frau, weil es dem Mann so trefflich schmeckte, der Mann, weil seine Frau so vorzüglich kochen konnte und weil sein Kind so trefflich gedieh, das Kind, weil es allem Anschein nach satt war und kein Bauchgrimmen hatte. Der Frau sah man an, daß sie sich ganz glücklich in ihrer Fütterrolle fühlte.

Nicht immer entsteht aus Mann und Frau oder Mann und Frau und Kind nebst Eßtopf ein Idyll. Ich sehe manchmal auf einer Partbank ein Paar sitzen, das durchaus nicht wie ein Bild häuslichen Glückes wirkt. Es ist ja schon verderblich genug für das Familiengefühl, daß der Mann unter freiem Himmel tafeln muß, wo andere daheim die vollen Bequemlichkeiten genießen, die sich während des Mittagessens und nachher zu ergeben pflegen. Das Essen ist im Volk etwas wie ein Pudibundum, eine tierische Funktion, die noch keine raffinierte Kultur mit Ästhetik verklärt hat. Der Mann sitzt auf der Park- bank und hat dasselbe unangenehme Gefühl, wie wenn er im Hemd spazieren ginge. Er ist griesgrämig, weil er grade heute so schwer hat schaffen müssen und so furchtbaren Hunger hat und aber gerade heute das Haushaltungsgeld nur zu ungeschmelzten Kartoffeln und einer billigen Büchse Sardinen gelangt hat, wie die Frau sagt. Und die Frau ist griesgrämig, weil der Mann griesgrämig ist, und weil sie wirklich kein Geld zu einem üppigeren Mittagessen hatte, oder weil sie es hatte, aber es heimlich anderweitig vertan hat, u. weil der Mann Ansprüche macht, grade wo sie sich krumm legen muß, um die Enden zusammen zu bringen.

Und so sitzen sich die beiden wie Feinde gegenüber, nur weil die Arbeit ein Band zerreißt, das eines der bewährtesten Familienbande sein kann: das gemeinsame Mittagessen. Die Malzeit - im wörtlichen Sinn, die Zeit des Mals - vereinigt alle um den gemeinsamen Tisch, an dem sie gemeinsam sich einer kurzen Ruhe freuen, gemeinsam genießen, sich gemeinsam sättigen, gemeinsam zufrieden werden.

Die Frauen, die ihren Männern das Essen tragen, begehen den Fehler, daß sie vorher zuhaus Mittag machen und den Mann allein essen lassen. Sie sollten sich zu ihm hocken und sein Mal teilen.

Dann könnte er sie wenigstens nicht im Verdacht haben, sie hätten die besten Bissen zuhaus vorweg gegessen.

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    Katalognummer BW-AK-009-1923