Original

3. Juni 1921

In der Nähe von Lampeduse lag - wie ein Goschichtswerk aus dem Jahre 8500 nach Christi Geburt berichtet - eine Orischaft, deren Bewohner dadurch merkwürdig waren, daß sie im Dunkeln genau so klar sahen, wie andere am hellen Mittag.

Dies verdankten sie der findigen und fortschrittlichen Veranlagung ihres Gaswerkes.

Die Aktionäre besagten Gaswerks stellten eines Tages in einer Generalversammlung die Frage, warum ihre Dividenden nicht noch höher seien. Es wurde ihnen geantwortet, der Gestehungspreis für Gas sei berart, daß eine höhere Gewinnziffer sich nicht habe herauswirtschaften lassen.

Ein Aktionär frug darauf, ob es denn unbedingt nötig sei, daß den Kunden des Gaswerks Gas geliefert würde. Die ganze Beschränkung der Rentabilität rühre doch nur daher, daß man überhaupt Gas erzeuge. Das mache nämlich die Anschaffung großer Kohlenvorräte, die Anstellung eines immer anspruchsvolleren Personals, die Aufrechterhaltung eines kostspieligen Betriebes nötig. Dies könne alles gespart werden, wenn überhaupt kein Gas erzeugt würde, und die Dividenden würden ungleich höher, wenn man von den Kunden einen Pauschalbetrag in der ungefähren Höhe ihrer bisherigen Jahresrechnungen einkassierte, ohne ihnen dafür das teure Gas zu liefern.

Infolge dieser Anregung ging das Gaswerk dazu über, seine Kunden in geschickt nüancierter Abstufung auf die sogenannte Nachtsichtigkeit zu trainieren. Da Eulen und Katzen angeblich bei Nacht sehen, mußte es möglich sein, auch das menschliche Auge auf das Dunkel einzustellen.

Das Gaswerk hatte mit diesem Versuch mehr Glück, als jener Mann aus der Fabel, der seinem Esel das Fressen abgewöhnen wollte, aber nur erreichte, daß der Esel verhungerte. Dafür war er eben nur ein Esel. Aber das Gaswerk hatte mit intelligenten Leuten zu tun, die sich zu dem Experiment vorzüglich eigneten.

Allmählich wurde der Druck verringert. Man begann während der Sommermonate und setzte die Behandlung durch den Herbst und Winter konsequent fort. Schon gegen Ostern waren die meisten Kunden soweit, daß sie vom Eintritt der Dunkelheit an bis zum Morgengranen ohne jede künstliche Beleuchtung vollkommen klar sehen, lesen, schreiben, rechnen, zeichnen und malen konnten. Nur in einzelnen Fällen wurde die Sinnesschärsung unangenehm empfunden, so z. B. wenn Ehegatten beim Erwachen in Streit gerieten über die Frage, ob der Mann um 12 oder um 2 Uhr nachhaus gekommen sei und ob er einen roten Kopf gehabt habe oder nicht.

Auch ein paar Nörgler, die zu Nachtsichtigkeit wahrscheinlich keine Veranlagung hatten und zweifelsohne auch farbenblind waren, versuchten gegen das Experiment aufzumucken und führten bei sich die elektrische Beleuchtung ein, aber sie vermochten dem Fortschritt keine Schranke zu setzen. Nach Jahresfrist waren alle Angeschlossenen - mit Ausnahme jener vereinzelten Nörgler - soweit, daß sie bei Nacht so hell, wie bei Tag sahen. Sie erblickten darin einen solchen Vorteil, daß sie an das Gaswerk gerne ihre Jahrespauschalrechnungen weiter bezahlten als Entgelt für diesen unerhörten Ausban ihrer Persönlichkeit.

Und was das Wunderbarste war: Es gelang in derselben Frist, das Wasser ebenfalls soweit zu bringen, daß es ohne Gas und ohne jede andere Feuerung ins Kochen geriet, sobald es auf den gewohnten Gasherd gestellt wurde.

Leider verlor sich später diese mühsam gezüchtete Eigenart, als die alte Gesellschaft durch eine neue ersetzt wurde, die wieder Gas erzeugte.

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    Katalognummer BW-AK-009-1927