Original

9. Juni 1921

Die Quellnixen aus dem Schweicher Tal hatten gestern abend eine dringende Protestversammlung einberufen.

Nachdem die Präsidentin, eine große Nixe mit schwarzem gewelltem Scheitelhaar, die Versammlung eröffnet hatte, richtete sie an ihre Mitnixen mit vor Erregung zitternder Silberstimme folgende Ansprache:

Ihr habt gehört, was sie in der Kammer von uns gesagt haben! (Zwischenrufe: Nein, nein, wir lesen keinen Kammerbericht.) Nun, so hört! Sie wollen uns alle miteinander ins Ösling hinaufpumpen und eine große interkommunale Wasserleitung für den Norden des Landes bauen. (Lärm. Unterbrechungen.) Ein Herr Erpelding hat sogar verlangt, es soll gleich morgen damit angefangen werden.

Erpelding? Den kenne ich, sagte eine kleine schnippische Nixe. Das ist der, der manchmal mit der Angel nach den Forellen trachtet. Erst kürzlich hat er eine von anderthalb Pfund gefangen, wo kein anderer dran gedacht hätte.

Ja, sagte das Fräulein Präsidentin, der ist es.

Da meldete sich eine dritte Nixe zum Wort.

Ich beantrage, eine Protestresolution an die Rogierung zu schicken. Ich muß bedauerlicherweise feststellen, daß von den öffentlichen Gewalten unsere Rechte schmählich verkannt werden. Es spottet jeder Beschreibung. Man weiß ja, daß wir Recht aufs Leben haben, man weiß ja, daß wir frei und ungesesselt dem Schoß der Erde entspringen, man weiß ja, daß wir gewöhnt sind, durch köstlich kühles Waldesdickicht dahin zu sprudeln, zwischen Königsfarren und Fingerhut, Glockenblumen und Maiglöckchen, man weiß ja, daß wir ein angestammtes Recht haben auf grüne Wiesen, durch die wir zwischen Erlen und Weiden unser Silberband dahinschlängeln. Und man weiß ja, daß die Dichter aller Zeiten von uns gelebt haben. Jawohl! Und nun kommen die Menschen, die Utilitarier, die Banausen, und bestehlen uns um unsern Lebensinhalt. Ich kenne sie, die grobfäustigen Männer, die uns einmauern, uns in die Enge und Finsternis ewig langer Röhren zwängen, die immer enger werden. Dort liegen wir still und gepreßt, bis es auf Momente Licht wird und wir auf irgend einen Wasserstein, in eine Waschbütte oder in einen Viehtrog uns zornig zischend ergießen können. Es dauert nie lange, und wir werden wieder eingesperrt. Ich frage Euch, ist das Gerechtigkeit! Wie gesagt, es spottet jeder Beschreibung!

Aha! sagte eine vierte Nixe. Dieser Erpelding will, soviel ich gehört habe, die ganze Fischerei im Land reformneren. Und nun will er alle Quellen in Rohrleitungen sperren. Am Ende meint er es so, daß die Forellen in den Wasserleitungsveservoirs gezüchtet und geangelt werden sollen.

Da sagte wieder die erste Nixe: Überhaupt es ist ja Blödsinn! Warum haben diese dummen Menschen Dörfer gebaut, wo keine Quellen waren?

Das Fräulein Präsidentin gab zu bedenken, daß die Menschen zu zahlreich sind, als daß auf jeden eine Quelle käme.

Warum haben sie denn die Kriege, wenn ihrer zuviel sind? fragte die Schnippische.

Da sagte eine fünfte, die bisher still in einer Ecke gesessen und kein Wort gesagt hatte:

Meine lieben Nixenschwesterchen, regt Euch doch nicht auf und laßt sie reden. Die Sache kostet soviele Millionen, daß sie wohl davon reden, aber sie nicht ausführen. Ich habe immer gehört, je mehr die von einer Sache reden, desto weniger führen sie sie aus.

Da waren sie einigermaßen beruhigt und begnügten sich mit einer Petition an den lieben Herrgott, damit dieser es wieder einmal regnen lassen sollte.

TAGS
    Katalognummer BW-AK-009-1932