Original

15. Juni 1921

Nichts ist bezeichnender für den Lokalcharakter, als der Charakter der Lokale.

Luxemburg hatte eine Zeit, wo das Spießertum in seinem Charakter den Ausschlag gab. Es ist noch nicht sehr lange her. Damais dichtete Paul Clemen für eine Rerue die Strophen vom „Spe’ß vu Letzeburg“, der in den Muästen schnüffelt, und „geseit en un de Schanken, daß een en Extra haat, da mecht en sech Gedanken an dre’t et durch d’ganz Staadt.

Damals wäre es niemand eingefallen, sich in ein Lokal zu setzen, dessen Fenster nicht dicht verhängt gewesen wären. Entweder verwehrten Vorhänge den Blick in’s Innere, oder in die Scheiben waren Blumen und Ornamente geschliffen, so daß man weder hinein noch hinaus sehen konnte. Heute kann man sich gar nicht mehr denken, daß jemand sich hintet ein Caséfenster setzen wollte, durch das er keinen Ausblick auf die Straße hätte. Nur des abends bei Licht tun noch einzelne Lokale gschamig und ziehen die Vorhänge vor die Gäste, entweder damit man die Leute drinnen nicht sehen soll oder damit man nicht sehen soll, daß keine Leute drinnen sind.

Jene alte Schau vor der Oeffentlichkeit im Wirtshausverkehr war eine Blüte der Spießbürgerpsyche. Die drinnen saßen, wollten nicht, daß man sie mir Schlemmer hielte, und die von draußen rechneten denen non drinnen nach, ob diese auch die nötigen Einkünste hätten, um tagtäglich für einen schwarzen Kaffee oder einen Dämmerschoppen 5 Sous auszugeben.

Allmählich emanzipierte sich der Spießer und, horrible dictu, es kam die Zeit, wo auch außer der Fastnacht verheiratete Frauen mit ihren Männern ins Café gingen.

Und heute gehen sie sogar schon allein. Im neu eröffneten Majestic ist für Luxemburg der Typ Kaffeehaus geschaffen, den die Großstadt schon längst besitzt: Ein gefällig ausgestattetes Lokal mit bequemen Korbsesseln um kleine Marmortische, ein erstklassiges kleines Orchester, das von 4 Uhr bis Mitternacht vorzügliche Musik macht, eine großstädtische Getränkekarte, das alles im Herzen der Stadt, am Paradeplatz. Das Lokal ist seit kaum 14 Tagen eröffnet, und schon wundert sich niomand mehr, wenn um die Zeit des Nachmittagskassees Damen, verheiratete und unverheiratete, einzeln oder in Gruppen, ohne jeglichen Canalier zum Majestic strömen und dort zu den Klängen eines Wiener Walzers vespern.

Solange Luxemburg Festung war, kannte seine Bevölkerung den Gartenlokalbetrieb. Die ganze Gegend vor dem Neutor und Glacis hieß „in den Gärten“. Men pilgerte familienweise hinaus und trank Grächen und Bier und aß „Hameschmieren“. Eine „Hameschier“ ist nicht dasselbe, wie ein Schinkenbrot. So wenig, wie ein öslinger Schinken das selbe ist, wie ein westfälischer, oder Zoßi das selbe wie Wurst. Seit wir eine offene Stadt geworden sind, hat sich der Zug noch den Gartenlokalen verloren. Papa Ambera kämpfte noch eine Zeitlang, aber er mußte sich schließlich auch auf das Stadtinnere zurückziehen. Man ging noch zu Barthels im Rollingergrund, wo die Hameschmier sechs Sous kostete, Wintersdorff markierte Jahre lang das Gartenlokal, aber ein nichtiger Garten mit Schankbetrieb, wie früher Biwer und auf dem Limpertsberg oder auch Beckesch Jängelchen am Bahnhof, oder die verschiedenen Amberg’schen Lokale im Park gab es nicht mehr. Auch in dieser Richtung ist nun ein Lokalbesitzer den Wünschen und Bedürfnissen des Publikums dicht an der Altstadtperipherie entgegengekommen. Dort, wo die Monderey-Avenue in die Merlerstraße die Stadt ins Land übergeht, klingen abends die Geigen und Hörner, Hunderte von Stühlen stehen auf sauber gebiestem Boden im Freien um die Gartentische, und die Kellner fliegen mit Bier und ausgesuchtem Grächen und mit Hameschmieren und Ferkel in Gelee und Käse und Saucisse, das Volk sitzt bis spät in der lauen Sommernacht und freut sich der frischen Luft und der Musik und der leiblichen Genüsse. Und der Wengleich Jang schmunzelt über die gute Idee, die er hatte, und an einem Tisch reden sie gar schon von der Zeit, wo von Luxemburg bis Esch über Leudelingen und Steinbrücken nur mehr eine einzige große Stadt sein wird.

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KatalognummerBW-AK-009-1937