Original

19. Juni 1921

Die größte Kunst im Leben ist Warten.

Warten heißt leben bis auf den Grund. Viele hassen es. Und es kann etwas Köstliches sein, wenn man daraus eine Kunst macht. Wer warten kann, kann der richtige Ton im Akkord sein, kann sich in die Harmonie des Ganzen fügen, kann seine Reihe einhalten.

Wenn Sonne, Mond und Sterne nicht warten könnten, wenn die Sonne einmal um Weihnachten schon um vier Uhr morgens aufgehen wollte, bräche das All in Scherben. Wer warten kann, fühlt sich weltorganisch an seiner Stelle, empfindet nicht jeden Augenblick das Bedürfnis, sich eine Extrawurst zu braten, hat das richtige Bewußtsein seiner Hinzugehörigkeit.

Du mußt bedenken, daß Du nicht für Dich allein, als Einzelwesen außer Zusammenhang in die Welt gestellt bist. Du bewegst Dich im Ganzen, aber das Ganze um Dich herum bewegt sich auch, ung zu Dir, und daraus wird die Harmonie des Lebens. Bewegst Du Dich schneller, als es Dir bestimmt ist, so bist Du am Ziel vor den andern und stehlt allein. Du bist, wie der Herr Pastor, der zur Orgel schneller singt, als der Organist folgt, und der schon mit vobiscum fertig ist, ehe der andere dominus gespielt hat. Die Gemeinde lacht mehr über den Pastor, als über den Orgelspieler.

Menschen, die nicht warten können, sterben immer zu früh, und wenn sie hundert Jahre alt würden. Sie haben die Resen aufgezwängt, ehe sie erblüht waren, sie haben ihr Essen halb roh verschlungen, sie haben im Rennen genossen, was im Sitzen genossen sein will, sie sind über die Liebe und die Jugend mit Purzelbäumen weggeturnt und sie selbst sind in keinem Abschnitt ihres Lebens fertig gewesen. Sie gehören zu dem Zeug, das die alten Dippenbäcker in Rospelt ein zweites Mak in den Osen taten, um ihm die nötige Härte zu geben.

Warten ist eine so große Kunst, daß man eigene Säle dafür gebaut hat. Es gibt Lehrsäle, Turnsäle, Musiksäle, Konzertsäle, Theatersäle, wo allerhand Wissenschaft und Kunst gepflegt wird. Und es gibt Wartesäle, in denen die Kunst des Wartens geubt wird.

Sage mir, wie Du wartest, und ich sage Dir, wie Du bist.

Wenn ich Charakterstudien machen will, setze ich mich ins Bahnhofrestaurant und beobachte, wie die Leute warten. Die einen sitzen auf ihren Nerven, wie auf Stecknedeln, die andern, wie auf Noßhaarpolstern. Für die einen ist die Wartezeit ein Gewinn, an dem sie sich bereichern, für die andern ist es hinausgeworfene Zeit, Zeit, die sie nervös in Fetzen reißen und unter den Tisch werfen. Sie leben nicht, während des Wartens, sie fiebern.

Das Bahnhosvestaurant ist in kleinen und auch noch in mittelgroßen Städten eine Attraktion. Man geht hin, wie ins Kino. Man sieht zu, wie die andern warten, und das ist ein ganz raffinierter Genuß. Manche Spießer, die wahre Virtuosen im Warten sind, haben in Bahnhofwartesälen ihren Stammtisch. Denn nirgends hat man so das Gefühl der Ruhe und Geborgenheit, wie in einer stillen Ecke, an der die Unruhe wie ein Strom vorüberzieht, ohne einem die Füße zu netzen.

Bewegung ist die Essenz des Lebens, Warten ist Einfügung in die Bewegung.

Wer Genie hat, braucht nicht zu warten, denn er kann jederzeit das Tempo angeben. Aber es gibt wenig Menschen, die Genie haben. Immer einen weniger, als viele glauben.

TAGS
  • reflection on waiting
  • reflection on previous text
KatalognummerBW-AK-009-1941