Original

28. Juni 1921

Den rücksichtslosen Parlamentariern, die der Kammer zumuten, ihre krausen Reden stundenlang über sich ergehen zu lassen, möchte ich heute einen Musterknaben gegenüber stellen, der alle seine Reden bis ins Kleinste einstudiert, nichts dem Zufall überläßt und sich in der Vorbereitung auf seine rednerische Tätigkeit durch nichts beirren läßt. Nicht einmal durch mißgünstige Vorgesetzte, die es nicht verstehen, daß ein Erwählter des Volkes anderes und wichtigeres zu tun hat, als seine tägliche Arbeit zu verrichten

Dieser Musterknabe - wir wollen ihn Fridolin nennen im Gegensatz zum bösen Dietrich, auf den alle mit Fingern zeigen, - hat die Ehre, dem werttätigen Volk anzugehören. Er arbeitet in einer Werkstatt, wenn er nicht als Deputierter tätig ist. Eines Tages kamen seine Alekierkameraden zu dem Werkführer und sagten: „Wir machen uns Sorge um unsern Freund Fridolin. Er bekommt manchmal über der Arbeit Anfälle, zieht sich an eine abgelegene Stelle zurück und ergeht sich in den seltsamsten Gebärden und Deklamationen. Wenn Sie sich überzeugen wollen, eben ist er wieder in Trance, er steht drüben hinter einem Bretterstapel.“

Der Werkführer pürschte sich an die Stelle heran, die ihm die Arbeiter bezeichnet hatten, und sah Fridolin in aufgeregter rednerischer Tätigkeit da stehen. Er hielt in der Linken ein Blatt und die Rechte war weit, gleichsam züngelnd hinausgestreckt, der Zeigefinger war gezückt, wie ein Dolch, der nach dem Herzen eines Gegners zielt, und über das Gehege von Fridolins Zähnen kamen die entrüstungsschwangeren Worte: „Ja, meine Herren, der Herrn Pescatore geht so weit, daß er jedes Schamgefühl hintansetzt! Der Herrn Pescatore - ich wiederhole es, der Herrn Pescatore ....“ Und in dem Wort zitterte eine namenlose innere Empörung, die Empörung des Gerechten über den Bösewicht, der Tugend über das Laster, des Patrioten über den Verräter ... „Der Herrn Pescatore ...!“ In diesem Augenblick trat der Werkführer vor und sagte: „Herr Fridolin, wollen Sie nicht die Güte haben, Ihre Arbeit wieder aufzunehmen? Sie dürfen nach Feierabend soviel pescatoren, wie Sie wollen, aber jetzt ist Schassenszeit, seien Sie so gut.“

Fridolin steckte sein Blatt ein und verachtete in tiefster Seele diesen Banausen, der keine Ahnung halte von der Flamme, die im Busen eines begeisterten Volksvertreters brennen kann und brennen muß. Es war offenbar schnöde Mißgunst von seiten dieses Sklaventreibers, daß er gegen Fridolin in dieser Weise vexatorisch vorging, und Fridolin wird nicht verfehlen, ihm bei Gelegenheit den Hieb heimzugeben.

Für uns hat die Geschichte nur den Wert, allen Stegreifrednern der luxemburger Kammer zu zeigen, daß es noch gewissenhafte Redner gibt, die ihre Aufgabe ernst nehmen.

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KatalognummerBW-AK-009-1949