Als ich in der burzen Sonntagsfommerfrische früh morgens aus dem Fenster sah, war mein alter Nachbar schon um die Wege und rief mir herauf: „Der Carpentier ist Meister geworden. Gesiern abend hab ich es in Remich gehört. Sie waren eine halbe Stunde aneinander.“
Ich sand es natürlich, daß Carpentier gesiegt hatte. Die Flinkheit über die Kraft, fast hätte man sagen können, der Geist über den Körper.
Später erzählten sie mir, Dempsey sei Sieger, Carpentier habe gegen ihn von vornherein nicht bestehen können.
Da fand ich ebenso selbstverständlich, daß die rohe Kraft über die Flinkheit, der Körper über den Geist gesiegt hatte.
Ich schließe daraus, daß ich mich innerlich nach keiner Seite festgelegt hatte, daß es mir eigentlich gleichgültig gewesen war, wer siegen würde.
Ich wußte eines: Daß in Amerika die Niederlage Dempseys viel schmerzlicher empfunden worden wäre, als die Niederlage Carpentiers in Frankreich. Ich meine das schmerzlich in quantitativem, nicht qualitativem Sinn.
Das Boxen ist in Amerika eine nationale Angelegenheit, während in Frankreich das Interesse dafür sich auf relativ enge Kreise beschränkt. Aus Kindertagen erinnere ich mich, wie Dorfburschen, die aus Paris zurückkamen, viel davon sprachen, daß sie „die Zawatt ziehen“ konnten, daß sie auch manchmal andeutungsweise mit den Fäusten nach vorn und einem Fuß nach hinten ausschlugen. Und daß sie die Überlegenheit der „Zawatt“ über die „Boxe“ in sachkundiger Weise priesen. Aber ich wüßte nicht, daß die „edle Kunst der Selbstverteidigung“, wie das Boxen in den Ländern englischer Zunge heißt, in Frankreich jemals zu solch schrankenloser Verehrung gelangt wäre, wie in England und in Amerika. Bekannt ist das englische Bild „Aus alten Zeiten“, auf dem ein Aristokrat ein Pferd seiner Mail-Coach vor einer Landschmiede beschlagen läßt und zum Zeitvertreib mit dem Schmied einen Gang macht, er, der gertenschlanke Lord mit dem gedrungenen, muskelgewaltigen Mann des Volkes. Wie populär das Boxen in Amerika ist, ersteht man daraus, daß es keinen amerikanischen Film ohne Boxkampf gibt. Jeder Roman, der drüben auf das Interesse der Menge spekuliert, muß seinen Helden in einem Fight Sieger werden lassen. Und der Kampf wird nicht bloß obenhin angedeutet, er muß in allen Einzelheiten beschrieben werden, jeder Uppercut, jeder Swing, jeder Direct muß erwähnt werden, wie in einem Sportbericht. Das Boxen gehört in die Magazine-Literatur, wie in der Provence der Knoblauch in die Küche. Das geht nicht anders in einem Land, in dem der Einzelne so unerbittlich auf sich selbst gestellt ist.
Zart besaitete Seelen entsetzen sich über die Boxerkämpfe, lassen aber Automobilrennen, Pferderennen, Radrennen, sogar Zweikämpfe auf Leben und Tod mit Säbel und Pistolen gelten. Warum einen Unterschied machen, je nachdem direkt mit Fäusten oder auf Umwegen mit Benzinexplosionen, Beinmuskeln, Stahlklingen oder Bleilugeln dasselbe Resultat erreicht wird? Es ist immer einer stärker, als der andere. Das weiß man im vorhinein. Aber man will wissen, wer? Zweck hat es ja keinen, aber wenn die Menschennatur in vielen Dingen nicht aufs Zwecklose gerichtet wäre, so wäre das Leben wirklich zu langweilig.
Und ein Versöhnendes haben die Reporter sehr geschickt in die brutale Geschichte dieser gewissermaßen offiziellen Prügelei hineinzubringen gewußt, indem sie die Familiensaite anschlugen. Frau Carpentier kabelt: Mach Dir nichts draus, Männe, wir haben Dich ja doch lieb! Und Dempsey drahtet seine Herzensfreude an sein Mütterlein. Rührend, nicht! Ein so guter Sohn kann unmöglich der rohe Patron sein, der dem Gegner Nasen- und Stirnbein einschlägt.
Und so endet dies aus Brutalität und Rücksichtslosigkeit und Massenblutdurst und Busineß gemischte Schauspiel mit einer respektvollen Verbeugung gegen die Familie, von der letzten Endes wieder alles Gute erwartet wird.