Es sind beiläufig 24 Jahre her, da wurde in unserer Kammer über eine Gesetzvorlage verhandelt, deren erster Artikel lautete:
„Art. 1. - Die Regierung wird ermächtigt, den Verkehr mit Fahrrädern auf allen öffentlichen Straßen zu regeln. Doch kann der Fahrradverkehr durch Gemeinderatsbeschlüsse zeitweilig oder dauernd auf dem Gebiet der betr. Gemeinde verboten werden.“
Damals war in den Augen aller Nichtradler das Fahrrad ein Luxusgegenstand, grade wie heute das Automobil.
Ich bin überzeugt, im Paradies, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund flogen und niemand zu gehen brauchte, wenn er nicht wollte, waren die Beine ebenfalls als Luxusbeförderungsmittel rubriziert. Auch heute noch könnte man die Behauptung aufstellen, die Leute, die ihre Beine nur zum Spazierengehen benützen, müßten dafür eine Luxussteuer bezahlen.
Das arme Rad, das zum Automobil sich verhält, wie die Ziege zur Kuh, wie der Ziehhund zum Pferd! Wie waren sie ihm damals auffässig, wie hatten sie Angst vor seiner Schnelligkeit! Der damalige GeneralDirektor der öffentlichen Bauten sagte bei der Begründung der Vorlage u. a.: „Die Feinfühligkeit, die Beweglichkeit und Schnelligkeit des Rades sind derart, daß beim Radler Vorsichtsmaßregeln und Strafandrohungen notwendig werden, die einem gewöhnlichen Wagenlenker nicht auferlegt werden dürfen. Der Radfahrer eilt mit erstaunlicher Schnelligkeit von einem Ort zum andern, er kann mit Leichtigkeit die Hindernisse vermeiden und in einem gegebenen Augenblick mit einem Druck der Hand oder des Fußes Kurven nehmen, die für ein Fuhrwerk unmöglich wären.“
Daß der Radler dabei häufig das Rad schlägt, ließ der Redner unerwähnt.
Als geschworener Feind des Fahrrads trat damals Herr Thinnes auf. Er sagte: „Ich hätte im Grund nichts dagegen, daß die Regierung den Fahrradverkehr regelt, weil unsere heutigen Minister nicht Rad fahren. Aber beim nächsten Wechsel im Ministerium bekommen wir vielleicht schon mehrere Radler in die Regierung, vielleicht sogar Männer, die dem Radsahrerverein angehören!“
Von einer solchen Eventualität befürchtete Herr Thinnes allerhand Plackereien für die öslinger Bevölkerung. Er meinte, es sei bis jetzt sehr gut gegangen, ohne daß die Wagen des Nachts Laternen anhängen hatten, es sei nie ein Unglück passiert. Aber wenn jetzt so ein Chausseefloh einem Bauern bei Nacht in die unbeleuchtete Karre rennt, so müsse der Bauer noch Schadenersatz bezahlen. Es müßte ganz einfach verboten werden, nachts auf ein Fahrrad zu klettern, wenigstens müßte an jedem Rad, außer der Laterne, eine dicke Glocke hängen und nicht eine kleine Klingel (une forte cloche et pas une petite sonnette). Worauf Herr A. Schmit bemerkte: Un bourdon, alors!
Herr Thinnes fährt fort: „Kein Reisender ist mehr feines Lebens sicher. Jeden Augenblick kann er von den Rädern eines Cyclisten einen tödlichen Stoß erhalten. Ein Mann, der ruhig auf der Straße einherwandert, darf sich nicht mehr in Gedanken über seine Geschäfte verlieren, er muß immer die Augen offen haben und die Ohren spitzen, wie ein Hase, immer auf dem Sprung sein, um nicht von einem Radler umgerannt zu werden.“ ... „Statt den Fortschritt des Radfahrens zu begünstigen, wäre es nützlicher, einen Zuwachs darin zu verhindern.“
Bei dem Artikel, in dem es sich um das Strafmaß bei Zuwiderhandlungen gegen ein Gemeindereglement über den Fahrradverkehr handelte, führte der General-Direktor folgende Fälle an: „Ein Radfahrer sieht ein Kind mitten auf einer Straße, in der der Radfahrverkehr verboten ist. Er denkt, mit seiner gewohnten Geschicklichkeit kommt er vorbei, ohne es zu verletzen. Das Kind erschrickt von dem Geräusch und wird krank. Dadurch bekommt die Zuwiderhandlung eine besondere Schwere und muß entsprechend strenger bestraft werden. Noch schlimmer: Das erschrockene Kind läuft ins Haus, stürzt die Treppe hinauf und bricht ein Bein. Dadurch wird die Unvorsichtigkeit des Radfahrers folgenschwer und muß umso energischer bestraft werden.“
Und heute! Niemand kümmert sich mehr um Rad und Radler, der Wanderer auf der Straße, der sich in seine Gedanken verrieft, erschrickt vor einem vorbeihuschenden Rad so wenig, wie Kuh und Pferd, Huhn und Schwein. Das Rad gehört in die Zeit, wie schon das Auto in die Zeit gehört, wie morgen die Flugmaschine hinein gehören wird. Man muß nur dafür sorgen, daß man seine Zeit mit offenen Augen und nicht mit dem Rücken ansieht.