Original

16. Juli 1921

Herr Jules Vannérus aus Brüssel, ein Neffe des kürzlich hier verstorbenen hochverehrten Henri Vannérus, veröffentlichte kürzlich in der Zeitschrift «Flambeau» eine kurze Studie unter dem Titel «Toponymie politique». Das Schriftchen, von dem ein Sonderabdruck als Broschüre im Brüsseler Verlag Maurice Lamertin erschienen ist, wirkt bei aller Wissenschaftlichkeit anregend wie ein Feuilleton, wohltuend in seiner ehrlichen Aggressivität und seiner Parteinahme fürs Althergebrachte.

Jules Vannérus entrüstet sich mit Recht über die lächerliche Sucht, alte, seit Jahrhunderten eingebürgerte Ortsnamen zu übersetzen, um eine politische Besitzergreifung zu markieren, und über die Trübung der reinen Quelle der Wissenschaft durch politische Leidenschaften und Verirrungen.

Er zählt eine Reihe der auffallendsten Verdeutschungen auf, die sich der vorübergehende Eroberer in Belgien geleistet hatte. Sie behalten ihren Wert als Beweis dafür, wie definitiv die Landnahme gedacht war. Einige dieser Umtaufen haben derart drollige Gebilde zutag gefördert, daß Jules Vannérus zu einem Vergleich mit den Verdeutschungen des Professors Knatschle veranlaßt wird. Wahrscheinlich hätte er auch, wenn sie ihm bekannt gewesen wären, ein paar von den komischen Übersetzungen angeführt, die während des Krieges hier von Witzbolden ausgetüftelt und den Deutschen in die Schuhe geschoben worden waren. Dazu gehört die Übertragung von St. Quentin in Einundfünfzig!

Jules Vannérus entrüstet sich aber auch in seinem luxemburger Kern über die französischen Namen, die die «Indépendance Luxembourgeoise» anstelle zahlreicher deutscher oder mundartlicher Ortsnamen unseres Landes gesetzt hat.

Darüber läßt sich streiten.

Wir sind ein zweisprachiges Land. Die Toponymie, in der sich die einzige französische Zeitung des Landes übt, hat hoffentlich - das sei vorausgesetzt - keinen politischen Zweck. Aber wenn die Zweisprachigkeit konsequent durchgesetzt werden soll, so muß der französisch sprechende Luxemburger die Möglichkeit haben, von seinen heimischen Zuständen zu reden, ohne deutsche Vokabeln einzuflechten. Er muß sagen können, daß er nach Remich Wasserbillig, Ettelbrück, Stadtbredimus, Lintgen, Neudorf usw. geht, ohne die glatte Linie seines französischen Satzes durch einen fremdsprachigen Höcker zu unterbrechen. Ich nehme als selbstverständlich an, daß es der «Indépendance Luxembourgoise» nicht einfällt, von einem Luxemburger zu verlangen, er soll sagen: „De Mann gehe’ert no Pontalize“ wo wir seit Urgroßväterzeiten sagen: „De gehe’ert no Ettelbreck.“

Diese Toponymie ist also nicht politisch, sondern rein ästhetisch. Sie will uns die Möglichkeit geben, französisch ohne fremden Einschlag zu reden, nicht aber für Frankreich Beschlag auf uns zu legen. Sonst würden wir natürlich dagegen aufmucken. Aber grade wie es barbarisch klingen würde, wenn ein Franzose sagte: Je vais à Trier. à London, à München, à Köln, à Aachen, und wie es darum von Alters her Trèves, Londres, Munich, Cologne, Aix-la-Chapelle heißt, ohne daß die Franzosen damit Rheinpreußen, England oder Bayern zu annektieren beabsichtigten, gradeso kann jemand, der die Zweisprachigkeit in Luxemburg bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgen will, eine Kulturlosigkeit darin erblicken, wenn ein Luxemburger überm Französisch reden die Ortsnamen auf deutsch einflicht.

Es fragt sich also nur, ob die Übersetzungen historisch, ethymologisch oder als Klangwirkung berechtigt sind. Herr Jules Vannérus findet z. B. Brême-le-Gué für Stadtbredimus drollig“. Er weiß wahrscheinlich nicht, daß sich bei Stadtbredimus tatsächlich eine Furt in der Mosel befindet. Die «Indépendance Luxembourgeeise» wußte es wahrscheinlich auch nicht, woraus ich schließe, daß sie den Namen aus einer alten Urkunde entnommen hat, und daß er dazumal von einem Ortskundigen ausgeheckt worden war. Es ist sogar von allen übersetzten Namen derjenige, der die meiste innere Berechtigung hat.

Aber was sind Namen? Schall u. Rauch. Die Dinge überdauern durch die Zeiten alle Namen und halten geduldig still, wenn wir sie von Jahrhundert zu Jahrhundert anders nennen, wie ein Haus, das jeder Besitzer immer in seiner Lieblingsfarbe tünchen läßt. Freilich, es gibt Farben, die schön, und andere, die häßlich sind. Und wer ein schönes Haus mit einer häßlichen Farbe anstreicht, verdient nicht, daß er darin wohnt.

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KatalognummerBW-AK-009-1964