Original

24. Juli 1921

Ein junger Kaufmann schreibt mir:

Haben Sie die beillegende Bekanntmachung in der Zeitung gelesen?

(Es handelt sich um folgende Anzeige:

„Der Kirchenrat von Liebfrauen - Luxemburg beadsichtigt in allernächster Zeit die Glockenstühle der Liebfrauenkirche einer ernsten Reparatur zu unterwerfen sowie das Läuten der Glocken durch elektrischen Betrieb zu bewerkstelligen.

„Interessenten wollen sich gleich an das kath. Pfarramt der Liebfrauenkirche - Luxemburg wenden und demselben einen vollständigen Kostenvorschlag unterdreiten.“)

Mein Korrespondent fährt fort:

Also selbst vor dem Heiligen, Altehrwürdigen, den Jahrhunderte alten Gebräuchen macht die moderne Technik nicht Halt! Das Glockenläuten soll mechanistert, elektrifiziert werden, so wie das Klavier elektrisch angetrieben wird. Der lebendige Menschengeist in seinen Einwirkungen auf die Muskelkraft des Körpers soll verdrängt werden durch die tote, mechanische elektrische Kraft.

Wenn sie das zu „Neklos“ einführen, so werden sie es auch bald zu Merkholz und zu Oberwampach eingeführt haben. Denken Sie den Gedanken zu Ende: Die kommende Generation soll nicht mehr die Glocken läuten dürfen? Wissen Sie, was das heißt?

Haben Sie als Schulbube nie die Glocken in Ihrem Heimatdorfe geläutet? Haben Sie zur Angeluszeit nicht an der Kirchentüre gelauert, bis der Küster kam und die Türe zum Glockenturm aufsperrte? Sind Sie nicht die Treppe hinaufgestürmt in den Turm, haben die Mütze in eine Ecke geworfen und das Glockenfeil ergriffen, dessen unteres Ende schwarz glänzte von Schweiß und in einem dicken Knoten endigte?

Glockengeläute von Menschenhand ist Rhythmus, Kraft, Schönheit, Gottgefälligkeit. Das Sichwiegen und Emporschnellen des Körpers, die wollüstige Ausrenkung der Glieder, das Ausschwingen der Muskeln in physischer Erschlaffung.

Glockengeläute von Menschenhand ist Sport wie Reiten, Rudern, Schwimmen und Turnen.

Glockenläuten ist eine Kunst. Noch heute höre ich mit unfehlbarer Sicherheit aus dem Glockenklang, ob ein blutiger Anfänger, ein Geübter oder der Küster selbst am Seite hängt.

Die Totenglocken habe ich nie gerne geläutet. Aber beim Te Deum im feierlichen Hochamt, - der Herr Pastor in vollem Ornat am Hochaltar inmitten der Chorknaben in roten und blauen Chorröcken, in einer Wolke von Weihrauch, die Sonne in den buntgemalten Kirchenfenstern, die gläubige andachtvolle Gemeinde. - die Sänger auf der Empore stimmen die Dankeshymne an, Schellengebimmel klingt durch den Raum, und wir - wir läuten die Glocken!

Bitte, Herr Redakteur, lassen Sie eine „Schrift umgehen“, damit aus moralischen, ästhetischen, sportlichen Rücksichten der Kirchenrat von Liebfrauen den elektrischen Glockenbetrieb nicht einführt.“

Dieser junge Mann spricht mir aus der Seele. O ja, das Glockenläuten war eines der Sicherheitsventile unserer Knabenkraft. Wir setzten eine Ehre darein, den Zusammenklang der beiden Heimatglocken im schönsten, rhythmischen Zweitakt herauszubringen, es gab Virtuosen und Stümper. Und am Schluß ließ man sich vom Seil in die Höhe schlenkern, bis die Glocke ausgebaumelt hatte. Und einmal hing das schwere Gewicht der Turmuhr so weit herunter, daß ich mit dem Kopf dagegen flog und bewußtlos, blutüberströmt liegen blieb. Ich habe die Narbe heute noch. Aber ein ehrgeiziger Pastor, dem unsere alten Glocken nicht gut genug waren, hat sie verhökert und neue dafür gekauft, und meine Heimat redet zu mir mit fremden Zungen, wenn sie vom Kirchturm zu mir redet.

Ich danke dem jungen Kaufmann für seinen Beitrag. Ich merke, auch auf Kontorstühlen können Dichter sitzen.

TAGS
  • Letter from reader
KatalognummerBW-AK-009-1971