Original

27. Juli 1921

Mein Herr! Sie stöbern ja beständig mit der Lupe herum nach „Zeichen der Großstadt“. Als der erste Trambahnwagen um die erste Ecke in den trocknen Schienen flötete, sprachen Sie von Großstadtgeräuschen, die Neue Brücke priesen Sie als Großstadtbild, über die Dancings gerieten Sie aus dem Häuschen, weil, wie Sie sagten, damit ein Zug ins Amerikanische hereinkomme, das Rasseln der Auto-Feuerspritze durch die Straße erinnert Sie an London, New York, San Francisco usw.

Gut, ich will Ihnen ein Charakteristikum der Großstadt nennen. Prüfen Sie, ob es auch schon hier zu finden ist, und freuen Sie sich darüber, wenn Sie wollen.

In einem französischen Roman, der in Paris spielt, las ich vor Jahren ein Zwiegespräch etwa folgenden Inhalts. Ein Pariser und ein Provinzler redeten über die Gesellschaft und jener gab diesem Aufschluß über eine Anzahl gemeinsamer Bekannten:

Der A? Eine ganz üble Nummer. Lebt von der Hand in den Mund, mogelt beim Ecarté und Bac, ohne sich fassen zu lassen, geht so lange zm Brunnen, bis er darin ersäuft.

Der B? Ein sanfter Schucke. Hat das Vermögen seiner Frau durchgebracht, sich scheiden lassen, sucht jetzt, nachdem sie geerbt hat, sich wieder herunzumachen und verspricht seiner Mätresse eine Villa am Meer, wenn es gelingt.

Der C? Berühmter Schriftsteller? J wo! Ein unverschämter Plagiater. Nur wagt es niemand, ihn zu entlarven, weil er einen scharfen Schnabel und böse Krallen hat.

Der E? Ein Raufbold und Zuhälter. Lebt von seiner guten Figur. Ist zurzeit der Beschützer einer Schriftstellerin. Was sie mit der Feder einbrockt, muß er mit dem Florett auslöffeln.

Der F? Ein guter Kerl. Pumpt alle Welt an und zahlt seine Schulden mit guten oder schlechten Witzen heim. Wer auf ihn hineingefallen ist, gönnt allen andern dasselbe, daher hat er überall Zutritt.

Der G? Ein politischer Nasta. Hat in seinem Leben deine Wahrheit gesagt. Trübt das Wasser durch Zwischenträgerei, um darin erfolgreich fischen zu können.

So geht die Galerie interessanter Männerköpfe weiter. Auf der Frauenseite war es nicht besser: Ehebrecherinnen, Kupplerinnen, Perverse, dumme und gescheite Spitzbübinnen, Horizontale, die nur in Gesellschaft mit Energie ihre vertikale Haltung bewahren, usw.

Abends waren beide Freude zusammen bei einem Dritten eingeladen. Und die ganze Galerie fand sich ein. Der Provinzler sah mit Entsetzen, wie der Pariser verbindlich lächelnd den Männern die Hand drückte, die er vormittags als Schurken geschildert hatte, wie er den Plagiator zu seiner letzten Novelle im „Journal“ beglückwünschte, die aus Maxim Gorki’s frühen Schriften gestohlen war, wie er sich von dem fidelen Pumpgenie in eine Ecke schieben und um einen Hunderter kränken ließ, wie er der Ehebrecherin die Hand küßte und mit der großen Lesbierin ein paar unverschämte Blicke wechselte, wie er der Dame des Hauses den Raufbold und Zuhälter vorstellte und sich mit dem Falschspieler zu einer Partie Ecarté hinsetzte.

Der Provinzler war empört und er machte beim Nachhausegehen dem Pariser kein Hehl daraus.

„Was willst du, lieber Freund,“ sagte dieser, „so ist das Großstadtleben. Der starke Umtrieb bringt aus der Tiefe allerhand Schmutz hoch, und wenn man sich bei jedem Nasvoll umdrehen oder fortlaufen wollte, bliebe man besser ganz zuhaus. Das Ganze ist, Witterung haben, die Leute rubrizieren, eine Höflichkeit lernen, die man wie eine Fischhaut anzieht und an der alles Unsaubere heruntergleitet. Von Außen sieht es aus, als ob alle in dasselbe Beet gehörten, der Eingeweihte weiß Bescheid, er sieht gleich, was Formel ist und was von innen kommt. Und so bildet sich eine Freimaurerei der anständigen Leute, die sich ohne Händedruck mit eingekrümmtem Finger verstehen. Sonst wäre das Leben hier unmöglich. Die Prinzipienreiterei und Ghrenpusseligkeit ist gut für die Provinz, hier würde sie wirken, wie Sand in einem Kugellager.

So oder ähnlich redete der Pariser.

Sehen Sie zu, ob Sie solche Großstadtzeichen noch nicht um Sich herum entdecken. Die bewiesen mehr, als flötende Trambahnschienen und amerikanische Dancings.

Hochachtungsvoll!Grimberger, Nörgler.
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  • fictional letter? Großstadt
KatalognummerBW-AK-009-1973