Original

28. Juli 1921

In Rosport am Bahnhof steht ein herrlicher Kirschbaum. Zur Zeit der letzten Kirschenblüte stand ich mit bestaubten Schuhen an seinem Stamm und blickte in die weiße Pracht hinauf. Die Blütenblättchen hingen ein wenig schlaff vom Frost der letzten Nacht, wie Libertyseide, wie kleine Schmetterlinge mit müden Flügeln, wie müdgetanzte Mädchen, die im Morgengrauen heimfahren.

Ich frug einen Mann, der auch auf den Zug wartete, was der Baum für Kirschen trage.

„Gar keine!“ sagte er. „Es ist ein Ziergewächs!“

Das klang, als sagte er: „Ein Unnütz, ein Schmarotzer, ein Tagedieb, der seines Vaters Geld in Putz und Suff hinmacht.“

Und auf einmal erschien mir der herrliche Kirschbaum in ganz anderm Licht. Ich war wieder einmal zu materiell, zu positiv, zu utilitaristisch gewesen. Ich hatte mir hinter den Blüten gleich die Kirschen, womöglich schon das Kirschwasser gedacht. Und nun hatten diese üppigen Ernteträume auf einmal den Boden unter den Füßen verloren.

Also diese ganze feierliche Geste des Blühens war nur Vermessenheit, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, ein Versprechen, das nie gehalten werden sollte! Alljährlich, wenn in weitem Umkreis die Äpfel und Birnen und Kirschen und Zwetschgen und Pflaumen sich bräutlich schmücken und zitternd in der Frühlingssonne das ewige Wunder der Befruchtung erleben, dann mischt sich frivol dieser Outsider in den Reigen, schmückt sich und läßt sich bewundern, um später, wenn die andern durch den Sommer hindurch ihre köstlichen Früchte zum Reifen in die Sonne halten, als armer aller Eunuche in seiner Ecke zu stehen!

So sind wir! Schönheit lassen wir uns gefallen, aber sie muß einen Hintergrund haben, sie muß als Blüte einer Frucht vorangehen. Dem Taumel muß die Tat, dem Rausch das Leben folgen.

Wohl, aber die Rose trägt doch auch keine Frucht, die schönsten Blumen im Garten geben keinen Samen.

Bitte, von einer Rose erwartet man keine Hagebutten mehr. Aber ein Kirschbaum, der blüht, hat Kirschen zu tragen, dazu hat ihn der liebe Herrgott geschaffen, das kann der Mann von ihm verlangen, wie der Herr Hauptmann im „Simplizissimus“ zu sagen pflegte.

Da erschien mir der Kirschbaum von Rosport des Nachts im Traum und sagte:

„Du bist ein Philister! Jawohl, ein Erzphilister. Faßt Euch doch gefälligst an der eigenen Nase. Was tut denn Ihr Menschen in punkto Blühen und Früchtetragen? Laßt Ihr denn nicht die Wechsel, die die Natur auf Euch zieht, mit Protest zu rückgehen? Ist Euer sogenanntes Lieben nicht in ungeheuerm Maßstab ein Blühen ohne Frucht? Sind unter Euch nicht die, die am prächtigsten blühen, die unfruchtbarsten? So zwar, daß sogar die, die niemals Früchte tragen dürfen, in Euern Kirchen die tauben Blüten verfluchen müssen!

Also laß mir gefälligst mein Vergnügen, freu dich, wenn ich blühe, und suche dir deine Kirschen im Trintinger Tal, das dafür da ist!

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KatalognummerBW-AK-009-1974