Der Wundrer über Land hat um diese Zeit manchmol eine Vision, die nach einem Gemälde von Millet aussieht. Während der Westen in tiefen Röten der Sonne nachjubelt, legt die Nacht langsam Beschlag auf die Erde. Da sieht man gebückte Gestalten gegen den Boden hacken, nicht weit ausholend, in kurzen, ingrimmigen Hieben, sich tiefer bücken, in den Schollen krümeln und den Arm in weitem Wurf nach einem Korb schwingen. Hinter ihnen, auf der dunbeln Ackerbreite, die von der Feuchtigkeit des umgewandten Erdreichs noch dunkler geworden ist, stehen unbewegliche Gestalten, stumm und steif, eine immer in gewissem Abstand von der andern. Und vorne sind die Menschen, die Schulter an Schulter gebückt sich langsam vorwärts hacken, wie ein stummes Tier, das sich mit Eisenzähnen verbissen weiter frißt.
Sie sind „in den Kartoffeln“. Und die vollen Säcke stehen hinter ihnen als Zeichen und Frucht ihrer Arbeit, schlichtes, bäuerliches Sinnbild der Taten, die ein Menschenleben hinter sich aufrichtet.
Leider sehen die Reihen diesmal arg gelichtet aus. Die stummen Zeugen der Arbeit und des Wachstums eines Jahres stehen in weiten Abständen. Manchmal fehlen sie ganz, den paar Knöllchen widerfährt nicht einmal die Ehre, daß der Bauer nach ihnen gräbt.
Die Kartoffel rächt sich für den Mangel an Hochachtung, den ihr die Menschen in ihren Redensarten beweisen. Sie will es sich nicht mehr gefallen lassen, daß man verächtlich von einem Kartoffelbauch redet oder von den dümmsten Bauern, die die dicksten Kartoffeln haben. Sie macht sich rar. Und da und dort hört man ein stolzes Aufbegehren: „J wo, wenn die Kartoffeln zu teuer werden, eß ich keine!“
Heißt das nicht Gott versuchen! Man hat noch die Angst der Kriegsjahre in den Knochen. Wer hätte damals sich verschworen, keine Kartoffeln zu essen! Heute hört man aus dem stolzen Wort heraus: Dann eß ich Fleisch und gelbe Rübchen und Erbsen und Bohnen und Geflügel und Caviar und Pasteten und was sonst alles bei Dousseaus im Schaufenster liegt. So weit sind wir heute schon, daß es wieder Leute gibt, die der Kartoffel Fehde ansagen und sie über die Achsel ansehen. Vergessen die Zeiten, wo es im Ösring zur Abfahrtszeit der Züge von allen Seiten mit Säcken und Karren und Wägelchen zusammenströmte von müden, hungrigen Frauen und Männern - meist Frauen, die in der Umgegend den Bauern die Klinken um einen Schoß voll Kartoffeln abgedrückt und dafür schweres Geld bezahlt hatten! „Dann essen wir keine!“ klingt heute die vermessene Absage.
Oder wir beziehen sie aus Holland! Und man redet sich gegenseitig zu, daß die holländischen Kartoffeln so gut sind, wie die von Contern oder Hostert oder Schlindermanderscheid. Es klingt ein wenig neu, daß Holland uns nun statt Tulpen- und Hyazinthenzwiebeln ganz gemeine Kartoffeln schicken soll. Manche denken an die holländischen Kanäle und schlußfolgern, daß die dort gewachsenen Kartoffeln leicht faulen müssen. Es ist merkwürdig, wie wir gegen fremde Produkte mißtrauisch sind, wenn wir sie auch im eigenen Lande ziehen. Äpfel, Zwetschgen, Schinken, Hasen, Speck usw., die aus dem Ausland kommen, werden von vornherein als minderwertig angesprochen. „Es geht nichts über die von zuhaus!“ Und man macht sich nicht klar, daß alles immer wohl anders, aber nicht besser und nicht schlechter ist.
Das ist aber die erste Erkenntnis, die uns not tut, damit wir zum wahren Internationalismus und zum allgemeinen Weltfrieden gelangen. Weil jeder immer meint, bei ihm zuhaus sei alles besser, und die ganze Welt müsse „an seinem Wesen genesen“, weil er darum das Fremde ablehnt und die andern gewaltsam beglücken will, darum wird immer kein Frieden.
Und so kann die Kartoffelnot und die Gewöhnung an holländische Kartoffeln uns auf dem Wege zur Völkerversöhnung ein kleines Stückchen weiterbringen.