Original

8. Oktober 1921

Gottes Ratschlüsse sind unerforschlich.

In Trier läßt er den Marksturz zu, damit in Luxemburg die Reisenden ihre Züge verfehlen.

Und was aus einem verfehlten Zug entstehen kann, vom unehelichen Kind bis zum Weltkrieg, mag die Phantasie des Lesers sich ausmalen.

Ein Korrespondent hat sich gestern in diesen Spalten über die Zoll- und Eisenbahnverwaltung geärgert und in Wasserbillig mehr Rücksicht auf das Publikum, zwischen Wasserbillig und Luxemburg einen besseren Zugverkehr verlangt.

Das Übel liegt bekanntlich in Wasserbillig. Die Zollbeamten tun dort ihren Dienst, wie er ihnen anbefohlen ist. Und es scheint ihnen von oben der blühendste Blödsinn anbefohlen zu sein. So z. B. daß sie den Leuten die Kleider am Leibe verzollen. Wenn einer für eine Ware den Zoll nicht bezahlen will, wird die Ware beschlagnahmt. Die Konsequenz wäre also hier, daß es im Wasserbilliger Bahnhof eines Tages von widerspenstigen Männlein und Weiblein im Adams- und Evaskostüm wimmelte. Von andern widersinnigen Folgen dieses Zollkuriosums nicht zu reden.

Inzwischen warten in Mertert, Manternach, Wecker, Betzdorf, Roodt, Münsbach, Ötringen, Sandweiler die Reisenden in Scharen auf den letzten Zug, mit dem sie um 7 Uhr 57 in Luxemburg sein sollen. Der ganze Verkehr speziell von Wormeldingen bis Schengen wird von den Autobussen der HH. Gebr. Raths nach Ötringen drainiert. Es sind durchschnittlich an die fünfzig Reisende pro Fahrt. Sie treffen fahrplanmäßig in Ötringen ein und ebenso fahrplanmäßig heißt es jeden Tag: Der Zug von Wasserbillig hat wegen der Zollabfertigung eine Stunde Verspätung. Das ist ein Minimum. Nach oben besteht keine Grenze. Wer Glück hat, ist um 10, statt um 8 Uhr zu haus. An Anschlüsse ist natürlich nicht zu denken.

Anderswo finden die Wartenden wahrscheinlich dicht am Bahnhof Obdach, vielleicht Verpflegung. In Ötringen, wo die Reisenden jeden Abend in Scharen warten müssen, steht dem Bahnhof gegenüber eine schöne, große Gastwirtschaft. Sobald um halb acht abends die Autobusse anfahren, löscht der Wirt seine Lichter aus und geht zu Bett. Er ist wahrscheinlich Mitglied des Antialkoholvereins. Aber dann sollte er lieber irgendwo eine Selterswasserbude aufmachen oder Milchwirtschaft betreiben.

Nun könnte ja der müde Fahrgast, der sein Abendessen hinter dem Horizont versinken steht, in einer entfernter gelegenen Wirtschaft, dem altrenommierten Café Kayser z. B., sich nach Speise und Trank umtun. Aber er wagt sich nicht so weit vom Bahnhof weg. Es könnte ja einmal ausnahmsweise sein, daß der Zug nur dreiviertel Stunden Verspätung hätte, und dann bliebe er ganz sitzen.

Wenn es nicht möglich ist, den Zug ab Wasserbillig verkehren zu lassen, wie er im Fahrplan steht, sollte die Bahn wenigstens den Fahrplan ändern, indem sie der Verspätung ein für allemal Rechnung trüge. Man könnte dann die zwei Stunden länger zuhaus bleiben, statt sich in Ötringen die Beine in den Leib zu stehen.

Worauf wartet die Bahn denn eigentlich? Glaubt sie, es handle sich nur um ein Provisorium? Solange der Tiesstand der Mark dauert, werden die luxemburger Hausfrauen den Billigkeitskoller nicht los und fahren zu Valutakäufen nach Trier. Der normale Zustand wäre ja der, daß die luxemburger Geschäftswelt selbst die deutschen Waren einführte und mit entsprechendem Nutzen hier absetzte. Aber man beruft sich auf Fälle, wo hiesige Geschäfte Waren, die sie drüben für 100 Mark gekauft hatten, einfach zu 100 Franken verkauften, und das will sich der Konsument nicht gefallen lassen. Solange andrerseits Deutschland durch den Frieden gezwungen ist, seine gesamten Aubeitskräfte in die Wirtschaft zu stecken, während sie bei unsern übrigen Nachbarn zu einem großen Teil die Kasernen füllen, wird Deutschland in der Lage sein, billiger zu produzieren. Eine Entlastung an der Zollgrenze ist demnach nicht abzusehen. Will man nun den heutigen Zustand, der ein Hohn auf die Bedürfnisse u. die gerechten Ansprüche des Publikums ist, ruhig weiter dauern lassen? Will man sich immer weiter anmaßen, das Publikum dafür zu bestrafen, daß sich hier ein wirtschaftliches Gesetz automatisch vollzieht? Oder wird man nächster Tage sich zu der Einsicht durchringen, daß ein Betrieb, der vom Publikum lebt, auch einigermaßen Rücksicht auf das Publikum zu nehmen hat?

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    Katalognummer BW-AK-009-1984