Original

11. Oktober 1921

Seit an unsere Eisenbahnzüge besondere Wagen angehängt werden für die Valutareisenden nach Trier, ist man versucht, über das Phänomen Trier eingehender nachzudenken.

Trier war uns früher stets die Stadt des hl. Rocks und des guten Untermoselers. Man ging alle Menschenleben einmal hin, um zu beten und Wunder zu erflehen und jedes Jahr wenigstens einmal zu den Frühjahrsversteigerungen in der Treviris, um Wein zu kosten, dazwischen ohne Ansehen des Jahres und der Jahreszeit, um bessere Flaschen zu trinken.

Daneben bestand zwischen Trier und uns das Verhältnis, das an allen Grenzen hinüber und herüber besteht, wenn man sich nicht über den Weg traut. Ein gemütliches, freundnachbarliches Hund- und Katzeverhältnis. Wir sagten: Die Trierer Viezbrüder, sie sagten: Die Latzeburger, und wünschten uns gelegentlich, daß ein paar Kompagnien 69er Räson brächten. Wir vergnügten uns über ihren Ärger, wie über das ohnmächtige Gezerre eines angeketteten Hofhundes, doch wenn wir beim Wein uns trafen, dann verstanden wir uns gleich.

Bis eines Tages der Hofhund loskam und uns den Hosenboden ausriß.

Aber die Trierer kamen nicht richtig dazu, sich über die Wandlung der Dinge zu freuen. Der Ausgang des Krieges und die bisherige Ausgestaltung der Dinge hat über alles, was war, ein dickes Schwamm drüber gemacht, und das Phänomen Trier hat mit dem, was es uns fruher war, nichts mehr gemein.

Trier ist uns nicht mehr die Stadt des hl. Rocks und auch nur in zweiter oder dritter Linie noch die Stadt der besseren Flaschen. Auch Genugtuung über die Revanche für eine vierjährige Vergewaltigung spielt in unserm Verhältnis zur deutschen Grenzstadt keine hervorstechende Rolle. Trier ist uns nur noch die Stadt der günstigen Valuta, der billigen Einkäufe. Wer heute als Luxemburger nach Trier fährt, tut es, um die Valuta auszunützen, und denkt an nichts anderes. Es ist eine Selbstsucht, die so tief in der Menschennatur wurzelt, daß selbst die Trierer darüber im Allgemeinen mehr mit Humor, als mit Ärger quittieren.

Ich war seit Kriegsende einmal in Trier, kürzlich zur Zeit der Valuta-Hochflut. Nichts hätte mich dazu bewegen können, den Nationalrappel der billigen. Einkäufe mitzumachen. Es war ein komplexes Empfinden. Mitleid war vielleicht auch dabei. Ich ging durch die Straßen, die bestrebt sind, der Großstadt ihren Charakter in Läden und Auslagen nachzumachen. Die große Gefahr für jede originelle Provinzstadt, ihre Eigenart einzubüßen. Hinter und vor mir gingen Frauen, die sich fragten: Wat huesch de fir deng gin? und Männer, die sich erzählten, daß sie eine Flasche zu 70 Mark getrunken hatten. In solchen Fällen sind es stets die Frauen, die fragen, und die Männer, die erzählen. Franzosen gingen durch die Menge, als ob die Menschen dichtes Buschwerk wären, in dem man zuweilen auf einen Bekannten stößt. Und ich dachte an ein Bild: Der Franzose kniet dem Deutschen auf der Brust und sagt: Bezahle mich! Der Deutsche antwortet: So laß mich mit der Hand in die Tasche fahren, in der ich mein Portemonnaie habe. Drauf der Franzose: Nein, denn in derselben Tasche steckt dein Browning!

Die Lage ist unerquicklich und unentwirrbar. Der eine zittert Mose, 36. 3: „Du sollst nicht zu Pfande nehmen den untersten und obersten Mühlstein, denn damit hättest du das Leben zu Pfand genommen!“ der andere sagt: „Wenn ich dich leben lasse, schlägst du mich tot.“

Das heißt dann Friede.

Zu diesem Frieden ist das Phänomen Trier von heute eine lehrreiche Illustration, und wer sich dort darüber klar wird, hat davon mehr, als wenn er eine Küche voll Aluminiumgeschirr zum heutigen Markkurs eingekauft hat. Und braucht dafür keinen Zoll zu bezahlen und in Wasserbillig sich nicht anderthalb Stunden lang zu ärgern.

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    Katalognummer BW-AK-009-1986